Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Moment, bis mir meine eigene Nummer einfällt. Ich hab sie nicht oft angerufen. Als sie mir wieder einfällt, wähle ich rasch die ersten sechs Ziffern und halte einen langen Moment inne, ehe ich die restlichen eintippe. Oft verstehe ich mich selbst nicht.
Es klingelt. Ich hab ein Pochen in der Kehle. Ein zweites Klingeln, ein drittes. Ein Klicken.
»Hallo?« Eine Jungenstimme. Michael. TV-Boy.
»Michael. Ich bin der Mann, den ihr letzte Nacht bestohlen habt.«
Ein kurzes, leises Keuchen, dann Stille.
»Hör mir zu, Michael. Ich möchte, dass du begreifst …«
Das Handy wird weggelegt, und ich höre, wie Michaels Stimme in einem Raum widerhallt. Ich höre undeutliche Stimmen, dann: »Gib her.« Ein Knopf wird gedrückt und das Gespräch beendet.
Ich habe diese Nummer der Polizeibeamtin gegeben, und jetzt weiß ich, dass sie nicht ein einziges Mal versucht haben, sie anzurufen. Das Handy ist noch immer im Besitz der Leute, die es gestohlen haben, die mich überfallen und geschlagen haben, und es funktioniert noch immer. Die Polizei hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Ermittlungen aufzunehmen, die Verbrecher wussten, dass die Polizei nichts unternehmen würde. Das ist der Augenblick, in dem ich mich stärker als je zuvor frage, ob ich überhaupt existiere. Wenn eine der beteiligten Parteien, die Polizei oder die Kriminellen, der Ansicht gewesen wäre, dass ich einen Wert oder eine Stimme besitze, dann wäre dieses Handy weggeworfen worden. Doch ganz offensichtlich wird meine Existenz auf keiner Seite dieses Verbrechens zur Kenntnis genommen.
Fünf Minuten später, nachdem ich zu meinem Auto zurückgekehrt bin, um Atem zu schöpfen, gehe ich wieder zu der Telefonzelle, um noch einmal meine Nummer anzurufen. Ich wundere mich nicht, als sich gleich die Mailbox meldet. Aus Gewohnheit tippe ich meinen Zugangscode ein, um die Nachrichten abzuhören.
Ich habe drei. Die erste ist von Madelena, die für die Zulassungsanträge in einem kleinen Jesuitencollege zuständig ist, das ich vor einigen Monaten besucht habe und wo mir die Aufnahme praktisch zugesagt worden ist. Seit damals sind ihnen ein Dutzend und mehr Gründe eingefallen, warum mein Antrag unvollständig ist. Zuerst sagten sie, die Kopien, die ich ihnen geschickt hatte, müssten beglaubigt werden. Dann hatte ich einen bestimmten Test nicht gemacht, von dem sie mir vorher gesagt hatten, er sei unnötig. Und die ganze Zeit war Madelena nicht im Büro, wenn ich versuchte, sie anzurufen. Allerdings ruft sie mich regelmäßig zurück, immer zu einer Zeit, von der sie weiß, dass ich nicht rangehen werde. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Darin ist sie unschlagbar. Die neue Botschaft ist informativer als alle vorhergehenden.
»Valentino, ich habe mit meinen Kollegen hier am College gesprochen, und wir sind der Meinung, dass Sie noch ein paar Scheine mehr am Community College machen sollten«, sie kramt in ihren Unterlagen, sucht den Namen, »dem Georgia Perimeter College. Wir wollen ja schließlich alle nicht, dass Sie den weiten Weg zu uns kommen, um dann zu scheitern. Also melden Sie sich doch nach ein paar Semestern wieder, dann sehen wir, wo Sie stehen …« So geht das eine Weile weiter, und als sie auflegt, höre ich die Erleichterung in ihrer Stimme. Jetzt muss sie sich mindestens ein Jahr nicht mehr mit mir beschäftigen, denkt sie.
Ganz ähnlich wie in Kakuma staunen einige Leute darüber, welche Probleme ich damit habe, manche Ziele zu erreichen, von denen sie glauben, sie dürften mir eigentlich keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Ich bin seit fünf Jahren in den Vereinigten Staaten, und ich bin dem College noch nicht viel näher als bei meiner Ankunft. Durch die Unterstützung von Phil Mays und der Lost Boys Foundation war ich in der Lage , meinen Stoffmuster-Job aufzugeben und als Vollzeitstudent am Georgia Perimeter College anzufangen, wo ich die Seminare besuchte, von denen man mir gesagt hatte, ich würde sie brauchen, um anschließend ein richtiges College besuchen zu können. Aber das lief nicht so wie geplant. Meine Leistungen schwanken stark, und meine Lehrer sind nicht immer ermutigend. Ob das College wirklich das Richtige für mich sei, fragen sie. Diese Frage habe ich nie beantwortet. Das Geld von der Foundation ging zur Neige, und ich musste diesen Job im Fitnesscenter annehmen, aber ich bin nach wie vor entschlossen, aufs College zu gehen. Auf ein renommiertes College, wo ich als regulärer Student eingeschrieben bin. Ich
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