Weit Gegangen: Roman (German Edition)
befanden und wir nicht dorthin fliegen würden..
– Wer ist der Feind?, fragte ich einen kenianischen Träger.
Er zuckte die Achseln. Keiner wusste, wer das getan hatte.
Wir aßen und schliefen, so gut wir konnten. Wir waren in Goal gestrandet, während die Welt überlegte, was zu tun war. Wie ich es vorhergesehen hatte, wie Maria es vorhergesehen hatte, schickte Gott mir eine Botschaft. Ich gehörte nicht in dieses Flugzeug oder überhaupt irgendein Flugzeug.
Wir rechneten damit, sofort nach Kakuma zurückgeschickt zu werden, aber an jenem ersten Tag wurden wir nicht nach Kakuma zurückgeschickt. Am nächsten Tag wurden wir auch nicht nach Kakuma zurückgeschickt. Wir wussten nicht, wie es mit uns weitergehen sollte, was sie für uns geplant hatten, aber je mehr Tage vergingen, desto zuversichtlicher wurden wir. Vielleicht würden wir nach Nairobi umgesiedelt. Ein Junge hatte die Idee, dass wir in dem Hotel in Goal arbeiten würden, zumindest diejenigen unter uns, die über geeignete Fähigkeiten verfügten. Er behauptete, ein sehr guter Koch zu sein.
Manche von uns wollten jetzt nicht mehr nach Amerika. Ihnen kam der Sudan sicherer vor als New York. Es würde nur noch schlimmer werden, so vermuteten sie, wenn es zu Vergeltungsmaßnahmen kam und der Konflikt sich ausweitete. Alle waren sich einig, dass jeder Krieg, den die Vereinigten Staaten führen würden, der größte Krieg wäre, den die Welt je gesehen hatte. Ich erinnerte mich an Explosionen, die ich in Filmen gesehen hatte. So würde der kommende Krieg aussehen, Feuer, das den Himmel ausfüllte und die Erde bedeckte. Oder vielleicht würden die Gebäude, alle Gebäude in Amerika einfach in sich zusammenfallen so wie in New York. Erst Rauch, dann Zusammenbruch.
Am Mittwoch, Donnerstag und Freitag gab es keine neuen Informationen von der International Organization of Migration, und am Samstag geschah etwas Unangenehmes: Weitere Flüchtlinge aus Kakuma trafen ein. Wieder war ein Flugzeug vom Lager nach Nairobi geflogen, und jetzt musste das Hotel weitere sechsundvierzig sudanesische Jungen unterbringen. Noch am selben Abend folgte eine weitere Gruppe. Und am Sonntag brachten zwei weitere Flugzeuge hundert neue Passagiere. Diese Flüge waren regulär geplant, wie der, mit dem wir gekommen waren, und sie waren nicht verschoben worden. Bald befanden sich dreihundert Flüchtlinge in Goal, einer Einrichtung, die für höchstens ein Drittel dieser Zahl ausgelegt war. Wir schliefen zu zweit in einem Bett. Matratzen aus Armeebeständen und Krankenhäusern wurden ins Hotel gebracht, und bald gab es nur noch schmale begehbare Wege zwischen den Decken und Laken, auf denen wir zu jeder Tages-und Nachtzeit, wann immer wir konnten, schliefen.
Von einem der Neuankömmlinge erfuhr ich von Maria. Kurz nachdem sie an meinem letzten Abend bei mir gewesen war und mich beschworen hatte, nicht wegzugehen, hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte eine Mixtur aus Reinigungsmittel und Aspirin geschluckt und wäre gestorben, hätte ihr Ersatzvater sie nicht im Bett entdeckt und die weiße Ranke gesehen, die sich aus ihrem Mund nach unten schlängelte. Sie war nach Lopiding gebracht worden, und inzwischen war ihr Zustand stabil. Als ich all das erfuhr, war ich am Boden zerstört. Aber, Sidra, Gott sei Dank nahm alles ein gutes Ende. Im Krankenhaus lernte sie eine ugandische Ärztin kennen, die sich ihre Geschichte anhörte und persönlich dafür sorgte, dass Maria nicht zu dem Mann zurückkehren musste, der für sie den höchsten Brautpreis erzielen wollte. Diese Ärztin kümmerte sich um sie und ermöglichte es ihr schließlich, in Kampala zur Schule zu gehen, einer Schule mit Kugelschreibern und Bleistiften, Schuluniformen und Wänden. Inzwischen studiert Maria an einem College in London. Wir halten per E-Mail und SMS Kontakt, und jetzt kann ich sie Schläferin nennen, weil auch sie versucht hat, für immer zu schlafen, aber nun offenbar froh ist, wach zu sein.
Am zweiten Tag in Goal überschwemmte ein warmer Regen Nairobi, und im Hotel machte sich schnell ein übler Gestank breit. Die Toiletten waren verunreinigt. Es gab nicht genug zu essen. Mit dem Geld, das wir hatten – viele von uns hatten etwas gespart –, wollten wir in Nairobi Lebensmittel kaufen, aber die Sicherheitsbestimmungen waren jetzt noch strenger als zuvor. Niemand durfte hinein oder hinaus. Der Streit um das Essen, das uns in Goal vorgesetzt wurde, förderte aggressives Verhalten. Wenn es
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