Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Fleisch gab, was selten vorkam, führte das zu Streitereien, und nur ein kleiner Teil von uns bekam etwas davon ab.
Wir hatten nichts zu tun. Wir beteten morgens und abends, dennoch war ich hilflos und konfus. Ich hatte mich die meiste Zeit meines Lebens machtlos gefühlt, aber diese Situation war beispiellos. Manche der Jungen gaben unserem Busfahrer die Schuld. Sie meinten, er sei zu langsam gefahren – wäre er schneller gewesen, hätten wir das Flugzeug früher erreicht und wären schon in der Luft gewesen, ehe alle Flüge abgesagt wurden. Das waren die Gedankengänge unglücklicher Seelen. Jedenfalls glaubten nur wenige von uns, dass wir noch in die Vereinigten Staaten fliegen würden. Australien vielleicht oder Kanada, aber nicht diese gerade angegriffene Nation. Wir wussten, dass die Bereitwilligkeit der Vereinigten Staaten, uns aufzunehmen, auf dünnem Eis stand, wir nahmen sie nicht als selbstverständlich hin, und uns war klar, wie schnell und mit welch gutem Recht sie ihre Meinung ändern konnten. Wozu brauchte ein Staat in der Krise Leute wie uns? Wir bedeuteten nur zusätzliche Probleme für ein zutiefst erschüttertes Land.
Am Nachmittag des achten Tages hörte der Regen auf, und Nairobi heizte sich unter einem wolkenlosen Himmel auf. Ich saß auf dem Bett, das ich mit einem Daniel teilte, und starrte Wände und Decke an.
– Ich wünschte, ich hätte nie von Amerika gehört, sagte ein Junge im Etagenbett unter mir.
Ich überlegte, ob ich das auch so sagen würde. Ich kann mich nicht erinnern, an dem Tag irgendetwas getan zu haben. Ich glaube ich hatte mich nicht vom Fleck bewegt.
Wir waren dreihundert Flüchtlinge, und wir warteten. Wir erfuhren, dass man Flüge mit Lost Boys an Bord, die kurz vor unserem gestartet waren, nach Kanada und Norwegen umgeleitet hatte. Überall auf der Welt waren Reisende gestrandet. – Die Welt ist stehen geblieben, sagte einer der Kenianer. Alle nickten.
Kurz darauf wurden die Flüge aus Kakuma eingestellt, aber noch immer trafen Flüchtlinge in Goal ein. Inzwischen war auch eine Gruppe von siebzig Somali aus Dadaab, dem anderen kenianischen Lager, in Goal, und die Verwaltung des Zentrums war gezwungen, den Insassen zu erlauben, mehr Zeit im Freien zu verbringen. Immer abwechselnd konnten wir im Garten durchatmen.
Zusammen mit all den anderen jungen Männern in Goal sah ich mir die Nachrichten an, hoffte, dass der amerikanische Präsident etwas über einen möglichen Krieg sagen würde, darüber, wer der Feind war. Dass im Laufe der folgenden Tage keine weiteren Angriffe erfolgten, machte uns etwas Mut. Aber andererseits konnten wir uns nicht vorstellen, dass es nur einen einzigen Angriff gegeben hatte und dann nichts weiter. Das war nicht die Art von Krieg, die wir kannten. Wir blieben in der Nähe des Fernsehers und rechneten stündlich mit schlechten Nachrichten.
– Ihr Sudanesen wollt nach Amerika!
Ein Somali, der älteste Somali, den ich je gesehen hatte, sprach uns quer durch den Raum an. Er stand da und sah zu, wie wir die Nachrichten verfolgten. Keiner wusste etwas über ihn, doch einige sagten, sie hätten ihn in Kakuma gesehen.
– Wo wollt ihr hin? Die sind im Krieg!, sagte der Somali.
Ich hatte schon von diesem Mann gehört. Die anderen in Goal nannten ihn den Lost Man. Der Lost Man machte mich sehr schnell sehr wütend.
– Habt ihr gedacht, da ist es besser?, schrie er, während auf der Mattscheibe gezeigt wurde, wie die Flugzeuge durch das dunkle Glas der Türme brachen, diesmal aus einem anderen Blickwinkel.
Niemand antwortete ihm.
– Es wird nicht besser sein!, fuhr er fort. – Habt ihr gedacht, dort hättet ihr keine Probleme? Bloß andere Probleme, ihr dummen Jungen!
Ich glaubte dem Mann nicht. Ich wusste, dass er kaputt war und dass er sich irrte. Ich wusste, dass wir in den Vereinigten Staaten auch trotz dieser Angriffe ein angenehmes Leben voller Möglichkeiten führen würden. Daran zweifelte ich nicht. Wir waren darauf vorbereitet, alle Hindernisse zu überwinden, die sich uns stellten. Wir waren bereit. Ich war bereit. Ich hatte in Kakuma Erfolg gehabt, und ich würde einen Weg finden, in Amerika Erfolg zu haben, in welchem kriegerischen oder friedlichen Zustand sich das Land auch immer befand. Ich würde dort ankommen und mich sofort an einem College anmelden. Ich würde nachts arbeiten und tagsüber lernen. Ich würde nicht ruhen, bis ich an einer richtigen Universität studierte, und ich war sicher, dass ich meinen Abschluss
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