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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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fiel, und keiner verließ mehr die Hütte. Die Schreie begannen kurz danach.
    – Achak.
    Meine Mutter war hinter mir. Ihr Mund war ganz nah an meinem Ohr.
    – Achak. Sieh mich an.
    Ich schaute ihr in die Augen. Es war so schwer, Michael. Sie hatte keine Hoffnung. Sie glaubte, wir würden an diesem Tag sterben. In ihren Augen war kein Licht.
    – Ich kann dich nicht schnell genug tragen. Verstehst du?
    Ich nickte.
    – Also musst du selbst laufen. Ja? Ich weiß, dass du schnell bist.
    Ich nickte. Ich glaubte, dass wir überleben könnten. Dass ich es könnte.
    – Aber wenn du mit deiner Mutter zusammen läufst, sehen sie dich. Verstehst du? Deine Mutter ist sehr groß, und die Reiter werden sie sehen, ja?
    – Ja.
    – Wir werden zum Hof deiner Tante laufen, aber es kann sein, dass ich dich allein weiterschicke. Vielleicht ist es besser für dich, wenn du allein läufst.
    Ich stimmte ihr zu, und wir liefen weiter Richtung Fluss, auf den Hof meiner Tante zu, weit weg vom Ortszentrum und weit weg vom Viehcamp und überhaupt weit weg von allem, was die Reiter vielleicht haben wollten. Ich lief hinter meiner Mutter, sah, wie ihre nackten Füße auf den Boden klatschten. Ich hatte meine Mutter noch nie so laufen sehen, und ich bekam Angst. Sie war eine langsame Läuferin, und sie war zu groß, wenn sie lief. In ihrem gelben Kleid und so langsam, wie sie lief, würde sie gesehen werden, und ich wollte sie möglichst schnell verstecken.
    Das laute Trommeln von Hufen, und plötzlich war ein einzelner Mann vor uns, der sein Gewehr erhoben hatte, sein Pferd zügelte und zu uns herabblickte.
    – Stehen bleiben, Dinka!, bellte er auf Arabisch.
    Meine Mutter blieb wie erstarrt stehen. Ich versteckte mich hinter ihren Beinen. Das Gewehr des Mannes war noch immer erhoben, zeigte in die Luft. Ich beschloss wegzurennen, falls er das Gewehr senkte. Der Reiter schrie etwas in die Richtung, aus der er gekommen war, und zeigte auf mich und meine Mutter. Ein anderer Reiter kam angaloppiert, wurde langsamer und machte Anstalten abzusteigen. Und dann rettete uns etwas. Er blieb mit dem Fuß hängen, und während er versuchte, ihn zu befreien, löste sich ein Schuss aus seinem Gewehr und traf sein Pferd ins Vorderbein. Das Tier schrie auf, fuhr herum und tat einen Satz nach vorne. Der Mann wurde umgerissen wie eine Puppe, weil er noch immer in dem Gewirr aus Zügeln und Gewehrgurt verheddert war. Der erste Reiter sprang ab, um ihm zu helfen, und in dem Augenblick, als er uns den Rücken zuwandte, waren meine Mutter und ich verschwunden.
    Kurz darauf erreichten wir den Hof meiner Tante Marayin. Hier war alles ruhig. Der Lärm des Angriffs klang fern, gedämpft. Marayin war nirgends zu sehen.
    Wir liefen die Leiter zu ihrer Getreidehütte hoch, setzten uns in den Körnerberg, gruben uns gegenseitig ein, deckten uns damit zu, sanken immer tiefer hinein. Der Blick meiner Mutter schoss hin und her.
    – Ich weiß nicht, ob das klug ist, Achak.
    Ein Schrei durchbohrte die Stille. Es war unverkennbar Marayins Stimme.
    – Oh Gott. Oh Gott, flüsterte meine Mutter.
    Sie vergrub den Kopf in den Händen. Kurz darauf hatte sie sich wieder im Griff.
    – Okay. Bleib hier. Ich muss nachsehen, was mit ihr passiert. Ich gehe nicht weit weg. Okay? Wenn ich nichts sehen kann, komme ich sofort zurück. Du bleibst hier. Du bist ganz ganz leise, okay?
    Ich nickte.
    – Versprichst du mir, dass du kaum atmen wirst?
    Ich nickte, hielt schon die Luft an.
    – Braver Junge, sagte sie. Sie umfasste mein Gesicht mit einer Hand, dann schlüpfte sie rückwärts zur Tür hinaus. Ich hörte ihre Füße auf der Leiter, und als sie hinabstieg, spürte ich die Hütte leicht beben. Dann Ruhe. Ein Schuss fiel, ziemlich nah. Ein weiterer Schrei von Marayin. Dann Stille. Während ich wartete, grub ich mich tiefer ins Korn, bis ich bis zu den Schultern bedeckt war. Ich lauschte angespannt.
    Füße scharrten über den Hof. Jemand war ganz nah. Aber so leise, so vorsichtig. Hoffnung keimte in mir auf: Es war meine Mutter. Leise schob ich mich aus dem Kornberg und kroch zum Eingang, um bereit zu sein, wenn sie die Arme nach mir ausstreckte. Ich spähte durch den Eingang nach draußen. Ich sah keine Bewegung, hörte aber noch immer die Schritte. Dann ein Geruch. So ähnlich wie der Geruch in der Kaserne, kompliziert und süßlich. Ich schlich wieder zurück ins Korn, und Michael, ich begreife nicht, dass ich so leise sein konnte. Dass ich keinen verräterischen Laut von mir gab.

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