Weit Gegangen: Roman (German Edition)
getan haben.
– Er ist weggelaufen.
– William K hat gesagt, er ist stehen geblieben.
Meine Mutter seufzte und setzte sich neben mich.
– Dann weiß ich es auch nicht, Achak.
– Kommen sie wieder?
– Ich glaube nicht.
– Kommen sie dann hierher? Zu uns?
Ich hatte die schwache Hoffnung, dass die Baggara nur am Rand von Marial Bai zuschlagen würden, dass sie das Haus eines so wichtigen Mannes, wie mein Vater es war, ungeschoren lassen würden. Aber sie hatten das Haus meines Vaters ja bereits angegriffen.
Meine Mutter begann, mit dem Finger Kreise und Dreiecke auf meinen Rücken zu zeichnen. Das hatte sie schon immer getan, solange ich denken kann, um mich zu beruhigen, wenn ich nicht einschlafen konnte. Leise summend strich sie mir in langsamen Kreisen mit dem Zeigefinger über den Rücken. Nach jedem zweiten Kreis malte sie zwischen Taille und Schultern ein Dreieck.
– Hab keine Angst, sagte sie. – Bald ist die SPLA hier.
Kreis, Kreis, Dreieck in die Mitte.
– Mit Gewehren?
– Ja. Die haben Gewehre, genau wie die Reiter.
Kreis, Kreis, Dreieck in die Mitte.
– Sind unsere auch so viele wie die Baggara?
– Wir haben genauso viele Soldaten. Oder noch mehr.
Ich lachte und setzte mich auf.
– Dann töten wir sie! Wir töten sie alle! Wenn wir Dinka Gewehre haben, töten wir alle Baggara, wie die Tiere!
Das wünschte ich mir. Das wünschte ich mir mehr als alles andere.
– Es kommt nicht einmal zum Kampf! Ich lachte. – In ein paar Sekunden ist alles vorbei.
– Ja, Achak. Jetzt schlaf. Mach die Augen zu.
Ich wollte sehen, wie die Rebellen die Männer erschossen, die Joseph Kol, William Ks Bruder, getötet hatten, der doch nichts getan hatte. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie die Araber in Fontänen von Blut von ihren Pferden stürzten. Wenn ich dabei wäre, würde ich mit Steinen auf ihre am Boden liegenden Körper einschlagen. In meiner Vorstellung waren es richtig viele, mindestens einhundert, und alle waren sie tot, die berittenen Araber. Sie waren von den Rebellen niedergeschossen worden, und jetzt zermalmten William K und ich ihre Gesichter mit den Füßen. Es war wunderbar.
Am Morgen fand ich Moses. Er lebte mit seiner Mutter und seinem Onkel in der halb abgebrannten Hütte seines Onkels. Moses wusste nicht genau, wo sein Vater war. Er rechnete jeden Augenblick mit seiner Rückkehr, obwohl sein Onkel offenbar keine Ahnung hatte, wo er sich aufhielt. Moses glaubte, dass sein Vater jetzt Soldat war.
– Für welche Armee denn? Die Regierung oder die Rebellen?, fragte ich.
Moses konnte es nicht sagen.
Moses und ich schlenderten durch die kühle Dunkelheit des Schulhauses. Es war leer, die Wände voller Einschusslöcher. Wir steckten unsere Finger in eines, zwei, drei – so viele, dass wir es aufgaben, sie zu zählen. Moses schob seine Finger, die dicker waren als meine, in fünf Löcher gleichzeitig. Das Schulhaus war menschenleer. Nirgendwo in Marial Bai war noch etwas los. Der Markt bestand nur noch aus einer Handvoll Läden, für größere Sachen musste man bis nach Aweil. Diese Reise konnte nur von älteren Frauen unternommen werden. Jeder Mann, der versucht hätte, Richtung Norden nach Aweil zu gelangen, wäre festgenommen worden, eingekerkert, eliminiert.
Die meisten Männer von Marial Bai waren fort. Nur die sehr alten und sehr jungen Männer waren noch da. Alle zwischen vierzehn und vierzig waren fort.
Wir beobachteten zwei Strauße, die sich hackend und kratzend gegenseitig jagten. Moses warf mit einem Stein nach ihnen, und sie blieben stehen, richteten ihre Aufmerksamkeit auf uns. Die Strauße waren im Dorf bekannt und galten als zahm, aber man hatte uns gesagt, dass sie in der Lage wären, einen kleinen Jungen im Handumdrehen zu töten, jemanden von unserer Größe in Sekundenschnelle zu zerfleischen. Wir duckten uns hinter einem halb verbrannten Baum mit verkohltem Stamm.
– Dämliche Vögel, sagte Moses, und dann fiel ihm etwas ein. – Hast du gehört, dass sie Joseph erschossen haben?
Ich bejahte.
– Ist genau hier rein, sagte Moses, und dann drückte er, genau wie William K es getan hatte, seinen Finger tief in meine Halsmulde.
IX.
Willst du wissen, wann ich für immer von dort wegging, Michael?
Es war ein heller Tag, die Himmelsdecke weit gewölbt. Mein Vater war geschäftlich in Wau. Wir waren erst seit einer Woche zurück in Marial Bai. Wieder legte ich gerade Holz aufs Feuer, als meine Mutter den Kopf hob. Sie kochte Wasser, und
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