Weit Gegangen: Roman (German Edition)
nicht glatt durch meine Hand hindurchgehen würde. Dann lag sie auf meiner Handfläche und war leichter, als ich gedacht hatte. Sie bewegte sich nicht, bohrte sich nicht in die Haut. Ich nahm die Patrone zwischen die Finger und hielt sie dicht vors Gesicht. Zuerst schnupperte ich daran, um festzustellen, ob sie nach Feuer oder Tod roch. Ich konnte nur Metall riechen.
– Lass mich mal riechen!
Deng griff danach, und die Patrone fiel zu Boden.
– Vorsichtig, ihr beiden. Die sind kostbar.
Ich stieß Deng gegen die Brust und hob die Patrone auf, wischte den Schmutz ab und polierte sie mit meinem Hemd. Beschämt gab ich sie Mawein zurück.
– Danke, sagte Mawein, nahm die Patrone und steckte sie wieder in seine Hemdtasche.
– Wie viele Patronen waren nötig, um den Elefanten zu töten?, fragte Deng.
– Drei, sagte Mawein.
– Wie viele braucht man, um einen Menschen zu töten?
– Was für einen Menschen?
– Einen Araber, sagte Deng.
– Bloß eine, sagte Mawein.
– Wie viele Araber kann das Gewehr da töten?, fragte Deng.
– So viele wie wir Kugeln haben, sagte Mawein.
Zu jeder Antwort Maweins fiel Deng eine neue Frage ein.
– Wie viele Patronen habt ihr?
– Wir haben viele Patronen, aber wir versuchen, noch mehr zu bekommen.
– Wo kriegt ihr die her?
– Aus Äthiopien.
– Da wollen wir hin.
– Ich weiß. Wir gehen alle nach Äthiopien.
– Wer?
– Du, ich, alle. Jeder Junge aus dem Südsudan. Zurzeit sind Tausende unterwegs. Ihr seid nur eine Gruppe von vielen. Hat Dut euch das nicht gesagt? Dut!, rief er zu Dut hinüber, der gerade versuchte, etwas von dem Elefantenfleisch einzupacken. – Bist du Lehrer oder nicht? Erklärst du diesen Jungs auch mal was?
Dut blickte Mawein besorgt an. Deng hatte noch mehr Fragen.
– Kann ein Araber leichter einen Dinka töten oder ein Dinka einen Araber?
– Beide sterben durch dieselbe Kugel. Der Kugel ist das egal.
Das enttäuschte mich ebenso wie Deng, aber er hörte nicht auf.
– Wieso haben wir keine Gewehre? Könnten wir mit dem Gewehr hier schießen?
Mawein warf den Kopf in den Nacken und lachte.
– Siehst du, Dut? Die Jungen sind bereit! Sie wollen kämpfen.
Wir stellten weiter Fragen, bis wir so viel Elefantenfleisch gegessen hatten, wie wir nur konnten, und bis Mawein unserer überdrüssig wurde. Die Sonne ging unter, und die Nacht kam. Die Soldaten schliefen in einer verlassenen Hütte in der Nähe, während wir uns im Kreis hinlegten und in dem wohligen Gefühl, von den Soldaten beschützt zu werden, in tiefen Schlaf fielen, den Kopf voller Racheträume.
Ich schlief neben Deng, und ich wusste, dass wir in den kommenden Tagen häufig solches Essen bekommen würden. Ich stellte mir vor, dass wir jetzt in einem Gebiet waren, wo die Rebellen auf Jagd gingen. Und wo Jäger waren, da würde es auch tote Elefanten geben, die darauf warteten, verspeist zu werden, und die Elefanten waren eine wunderbare Nahrungsquelle: Sie waren groß genug, um Hunderte Jungen mit Fleisch zu versorgen, und ihr Fleisch war nahrhaft. Es war mir egal, was meine Ahnen davon halten mochten. Wir waren die Rote Armee, und wir brauchten Essen.
Am Morgen stand ich rasch auf und fühlte mich so stark wie schon seit Wochen nicht mehr. Deng lag neben mir und ich ließ ihn schlafen. Ich sah mich im Lager nach den Soldaten um, entdeckte aber keinen.
– Die sind schon weg, sagte Dut. – Sie wollen dem Häuptling von Gok Arol Kachuol einen Besuch abstatten.
Ich lachte. – Das wird ein schöner Besuch!
– Ich wäre gern dabei, sagte Dut.
Kämpfen! Schon allein der Gedanke tat gut. In meiner Fantasie sah ich Gewehre, schwärmte von der Macht des Gewehrs, malte mir aus, mit dem Dorf Gok Arol Kachuol eine Rechnung zu begleichen. Zum ersten Mal seit Wochen hungerte ich wieder nach Abenteuern. Ich wollte weitermarschieren. Ich wollte sehen, was uns an diesem Tag auf unserem Weg erwartete. Ich stellte mir andere Gruppen von Jungen wie uns vor, alle unterwegs nach Äthiopien. Der Gedanke an die Rebellen, an ihre Gewehre und ihre Bereitschaft, für uns zu kämpfen, gab mir Kraft. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass wir stark waren, dass auch die Dinka kämpfen konnten.
Die Sonne war wieder mein Freund, ich war aufnahmebereit und bereit, voranzukommen und lebendig zu sein. Ich schaute mich um, sah die anderen Jungen, die erwachten und ihre Sachen zusammensuchten. Deng schlief noch immer, und ich war so froh, ihn friedlich und klaglos schlafen zu sehen, dass
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