Weit Gegangen: Roman (German Edition)
ihm hinüber. Er gestikulierte, ich solle zu ihm kommen. Also entschuldigte auch ich mich, und bald tuschelten Achor Achor und ich hektisch im Badezimmer der Mays.
– Verstehst du, was er will?, flüsterte er. Die Sache war dringend, so wie in jener ersten Zeit immer alles dringend war. Wir dachten, von jeder Frage, jeder Antwort könne für uns die ganze Welt abhängen. Wir hielten es beide für möglich, dass Phil seine Meinung über mich ändern und sich weigern könnte, mir zu helfen, wenn wir ihn hierbei nicht zufriedenstellten.
– Nein, sagte ich. – Ich dachte, du würdest es verstehen. Du sprichst besser Dinka als ich.
Das stimmte. Achor Achor beherrschte die Sprache, ihre Dialekte und Redewendungen schon immer weit besser als ich.
In den fünf Minuten im Badezimmer kamen wir auf zwei Sprichwörter, die Phils Wünschen hoffentlich entsprachen.
– Ich habe eins, sagte Achor Achor, als er sich wieder an den Tisch setzte. – Ein bedeutender Vertreter der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee hat es benutzt: »Es kann passieren, dass die Zähne unabsichtlich die Zunge beißen, aber für die Zunge ist es keine Lösung, sich einen anderen Mund zu suchen.«
Achor Achor lächelte, und wir alle lächelten. Außer Achor Achor wusste keiner, was das Sprichwort bedeuten sollte.
Nachdem die Teller abgeräumt waren, verabschiedeten sich Achor Achor, Pio und Dau, und Phil bat mich, noch zu bleiben, damit wir uns unterhalten könnten. Stacey brachte die Babys ins Bett und sagte gute Nacht. Phil und ich gingen die prächtige Treppe hinauf ins Spielzimmer der Kleinen. Noch nie hatte ich so viele Spielsachen auf einmal gesehen. Es sah aus wie ein Kindergartenraum für Dutzende von Kindern, nicht bloß für zwei. Die Wände waren mit Bildern aus Kinderbüchern bemalt – Feen und fliegende Kühe. Es gab Stofftiere, dreidimensionale Puzzles und eine Puppenstube, alles in Weiß und Rosa und Gelb. Im hinteren Ende des Raumes stand ein großer Erwachsenenschreibtisch, mit einem Laptop, einem Telefon und einem Drucker darauf. – Mein »Homeoffice«, erklärte Phil. Er sagte, ich könne es jederzeit benutzen.
Es gab nur einen Stuhl im Zimmer, also setzten wir uns auf den Boden.
– So, sagte er.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also sagte ich, was ich sagen wollte, nämlich: – Es ist Gottes Wille, dass wir uns begegnet sind.
Phil pflichtete mir bei. – Ich bin froh darüber.
Ich erkundigte mich nach den Bildern an den Wänden, und Phil erzählte mir von Alice im Wunderland und Humpty Dumpty, von Rotkäppchen und dem Wolf. Als es dunkel im Zimmer wurde, machte Phil eine Lampe an, und das Licht fiel durch eine langsam kreisende Abfolge von Silhouetten. Lachsfarbene Pferde und limonengrüne Elefanten galoppierten über die Wände und Fenster.
– Also ich finde, du solltest mir die ganze Geschichte erzählen, begann er.
Seit meiner Ankunft in Atlanta hatte ich noch niemandem alles erzählt, aber ich wollte es Phil Mays erzählen. Er war ein sehr guter Mann, so schien es, und ich wusste, dass er zuhören würde.
– Du willst bestimmt nicht alles hören, sagte ich.
– Doch. Das will ich wirklich, versicherte er mir. Er hielt ein Stoffpferd in der Hand und stellte es behutsam neben sich auf den Boden.
Ich glaubte ihm, und ich fing an, ihm meine Geschichte zu erzählen, angefangen von meiner Kindheit in Marial Bai. Ich erzählte ihm von meiner Mutter in ihrem sonnengelben Kleid und von dem Laden meines Vaters, wo ich immer mit meinen Hammer-Giraffen spielte, und von dem Tag, als der Krieg nach Marial Bai kam.
Es wurde zum Ritual. Jeden Dienstag kam ich zum Abendessen zu ihnen, und nach dem Essen brachte Stacey die Zwillinge zu Bett, und Phil und ich setzten uns auf den Boden des Spielzimmers und sprachen über den Krieg im Sudan und die Reise, die ich hinter mir hatte. Und an den Tagen, an denen wir das nicht taten, half Phil mir bei allem anderen.
Innerhalb eines Monats hatten wir mir ein Girokonto eingerichtet, und ich bekam eine Bankkarte. Er meldete mich bei einer Fahrschule an und versprach, für einen Autokredit zu bürgen, sobald ich den Führerschein in der Tasche hätte. Wir gingen mit Stacey und den Zwillingen in den Supermarkt, und sie erklärten mir, welche Lebensmittel ich zu welcher Mahlzeit essen sollte. Bis dahin hatte ich noch nie ein Sandwich gegessen. Achor Achor und ich waren keine besonders guten Köche, und wir hatten immer nur eine Mahlzeit am Tag zu uns genommen. Wir kannten es nicht
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