Weit Gegangen: Roman (German Edition)
in ihr Büro kommen und möglicherweise auch etwas Zeit zur Verfügung stellen würde.
Und jetzt saß er neben mir und wusste offenbar nicht so genau, wie er mit der Situation umgehen sollte, in der wir uns befanden. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, mein Betreuer zu werden, aber schon nach wenigen Minuten war ihm klar geworden, dass sich für mich nichts ändern würde, wenn er lediglich einen Scheck ausstellte, dass ich weiter desorientiert und ziemlich hilflos bliebe. Ich sah ihn mit einer Entscheidung ringen, und er tat mir furchtbar leid. In jeder anderen Situation hätte ich ihm gesagt, das Geld genüge völlig. Aber ich brauchte nun einmal dringend jemanden, der mir Tipps gab, der mir beispielsweise half, einen guten Arzt zu finden, der meine Kopfschmerzen behandelte. Ich blickte ihn an, bemüht, wie jemand auszusehen, der vielleicht ganz interessant für ihn war, jemand, den er anstandslos mit nach Hause nehmen konnte, um ihn seiner Frau und den Zwillingen vorzustellen, die damals noch kein Jahr alt waren. Ich lächelte und versuchte, locker und freundlich zu wirken, nicht wie jemand, der nur Elend und Sorgen mit sich brachte.
– Ich liebe Kinder!, sagte ich. – Ich kann sehr gut mit Kindern umgehen, fügte ich hinzu. – Wenn Sie mir helfen, revanchiere ich mich, indem ich auf Ihre Kinder aufpasse. Oder mit Gartenarbeit. Ich würde alles machen.
Der arme Mann. Ich vermute, ich trug etwas zu dick auf. Er war den Tränen nahe, als er schließlich aufstand und meine Hand schüttelte.
– Ich werde dein Betreuer. Und dein Mentor, sagte er. – Ich besorge dir Arbeit und ein Auto und eine Wohnung. Und dann kümmern wir uns darum, dass du aufs College gehen kannst.
Und ich wusste, dass er das wirklich tun würde. Phil Mays war ein erfolgreicher Mann, und er würde auch bei mir erfolgreich sein. Ich schüttelte ihm kräftig die Hand und lächelte und begleitete ihn zum Fahrstuhl. Ich ging zurück ins Büro der LBF und schaute aus dem Fenster. Er kam direkt unter mir aus dem Gebäude. Ich sah zu, wie er in sein Auto stieg, ein schönes Auto, schnittig und schwarz, genau unter dem Fenster, an dem ich stand. Er setzte sich hinters Lenkrad, legte die Hände in den Schoß und weinte. Ich sah seine Schultern beben, sah, wie er die Hände vors Gesicht hob.
Das Abendessen bei Phil und Stacey zu Hause war ein wichtiges Ereignis. Ich musste einen guten Eindruck machen. Ich musste freundlich und dankbar sein und dafür sorgen, dass die kleinen Kinder mich mochten. Aber allein traute ich mich nicht hin. Damals hatte ich noch kein eigenes Auto, und daher bat ich Achor Achor, der mit anderen Lost Boys verabredet war, mich auf dem Weg zu seinem Treffen bei Phil abzusetzen. Ich wusch und bügelte dasselbe Hemd, das ich bei meiner ersten Begegnung mit Phil getragen hatte – es war das einzige vorzeigbare Hemd, das ich damals besaß –, und bügelte meine Khakihose. Als Achor Achor und ich ins Auto stiegen, eröffnete er mir, dass er unterwegs noch zwei andere sudanesische Flüchtlinge abholen würde, Piol und Dau.
– Was?, sagte ich erbost. Ich hatte gehofft, Achor Achor würde mich bis zur Tür bringen, weil ich fürchtete, das nicht allein zu schaffen. Und jetzt würde ich womöglich von drei Sudanesen eskortiert werden? Würden Phil und Stacey überhaupt aufmachen?
– Keine Sorge, sagte Achor Achor. – Wir fahren gleich weiter, wenn wir dich abgeliefert haben.
Wir parkten den Wagen auf der Straße und gingen den Weg hoch zur Haustür. Das Haus war riesig. Es war so groß wie die Häuser der höchsten Würdenträger im Sudan – Minister und Botschafter. Der Rasen war satt und grün, die Hecken zu Würfeln und Kugeln geschnitten.
Wir läuteten. Die Tür ging auf, und ich sah den Schreck auf ihren Gesichtern. Phil und Stacey mit je einem Zwilling auf dem Arm.
– Hallo, sagte Stacey. Sie war zierlich und blond und ihre Stimme klang hell, aber unsicher. Sie sah Phil an, als habe er vergessen, ihr zu sagen, dass vier Sudanesen zum Essen kommen würden, nicht bloß einer.
– Kommt rein, kommt rein!, sagte Phil.
Und wir gingen hinein. Die Tür schloss sich hinter uns.
– Wir grillen heute Abend, ich hoffe, das ist für euch okay, sagte Stacey.
Ich drehte mich zu Achor Achor um und warf ihm einen Blick zu, der ihm signalisieren sollte, er möge bitte verschwinden, aber er war zu sehr damit beschäftigt, das Haus zu bestaunen. Offensichtlich hatten Achor Achor und Piol und Dau bereits vergessen, dass sie
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