Weit Gegangen: Roman (German Edition)
die nicht versuchten, ein schlechtes Licht auf sie zu werfen. Ich hielt zu ihr, weil ich sah, dass die Sudanesen in Atlanta vieles, was ihnen zur Verfügung stand, Marys Arbeit verdankten. Ich gebe zu, es hat mir Vorteile verschafft, dass ich ihr Geduld und Mitgefühl entgegenbrachte. Das wichtigste Geschenk, das sie mir zukommen ließ, war Phil Mays.
Es gab viele Förderer wie euch, meine christlichen Nachbarn – gutwillige Kirchgänger, die sich die Not der Lost Boys zu Herzen nahmen –, doch nach einigen Monaten in Atlanta hatte ich noch keinen Betreuer, und die drei Monate, in denen die US-Regierung meine Miete bezahlte, neigten sich dem Ende. Ich litt unter ständigen Kopfschmerzen und konnte mich oft kaum bewegen; manchmal wurde mir vor Schmerz schwarz vor Augen. Ich wollte ein neues Leben beginnen und brauchte zahllose Dinge: einen Führerschein, ein Auto, einen Job, eine Zulassung zum College.
– Phil wird dir bei allem helfen, sagte Mary, als wir an einem regnerischen Tag im Büro der Lost Boys Foundation zusammen warteten. Sie tätschelte mir das Knie. – Er ist der beste Betreuer, den ich finden konnte.
Die meisten Betreuer waren Frauen, und ich wusste, dass mir viel Missgunst entgegenschlagen würde, sobald sich herumspräche, dass ich einen der wenigen Männer zugewiesen bekommen hatte. Aber das war mir egal. Ich brauchte Hilfe, und ich hatte das Gehabe der jungen Sudanesen in Atlanta ohnehin satt.
Ich war sehr nervös vor dem Treffen mit Phil. Es ist mein voller Ernst, wenn ich sage, dass wir Sudanesen alle, wirklich alle, glaubten, dass jederzeit alles passieren konnte. Ich zog insbesondere die Möglichkeit in Betracht, ich könne am Morgen unseres Treffens im Büro der Foundation prompt irgendwelchen Beamten von der Einwanderungsbehörde übergeben werden. Dass man mich nach Kakuma zurückschicken würde oder vielleicht irgendwo anders hin. Ich vertraute Mary, glaubte aber, dass dieser Phil Mays möglicherweise irgendein Agent war, der unser bisheriges Verhalten in den Vereinigten Staaten missbilligte. Phil erzählte mir später, er habe es mir an meiner Haltung ansehen können: unterwürfig, angespannt. Ich war dankbar für jede Stunde, in der ich willkommen war und nicht in Gefahr schwebte.
Ich wartete in der Lobby, bekleidet mit einer blauen Anzughose, die ich von der Kirche bekommen hatte. Sie war zu kurz und in der Taille viel zu weit, aber sie war sauber. Mein Hemd war weiß und passte wie angegossen. Ich hatte es in der Nacht eine Stunde lang gebügelt und am Morgen noch einmal.
Ein Mann in Jeans und Polohemd trat aus dem Fahrstuhl. Er sah nett aus, war Mitte dreißig und wirkte wie ein durchschnittlicher Weißer aus Atlanta. Das war Phil Mays. Er lächelte und kam auf mich zu. Er ergriff meine Hand mit beiden Händen, schüttelte sie bedächtig und sah mir dabei in die Augen. Da war ich mir noch sicherer, dass er vorhatte, mich abzuschieben.
Mary ließ uns allein, und ich erzählte Phil eine Kurzfassung meiner Geschichte. Ich konnte sehen, dass sie ihm nahe ging. Er hatte in der Zeitung über die Lost Boys gelesen, aber meine detailliertere Version wühlte ihn auf. Ich erkundigte mich nach seinem Leben, und er erzählte mir etwas von sich. Er war Immobilieninvestor, sagte er, und es ging ihm sehr gut. Er war in Gainesville, Florida, aufgewachsen, als adoptierter Sohn eines Professors für Entomologie, der seine akademische Laufbahn aufgab, um Mechaniker zu werden. Seine Adoptivmutter hatte die Familie verlassen, als Phil vier war, und sein Vater hatte ihn allein großgezogen. Er war zwar ein guter Sportler gewesen, aber als er auf dem College nicht die erforderlichen Leistungen brachte, wurde er Sportreporter, bis er den Bachelor in der Tasche hatte. Danach absolvierte er ein Jurastudium und zog nach Atlanta, wo er heiratete und sich selbstständig machte. Als Teenager hatte er herausgefunden, dass er adoptiert war, und sich schließlich auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern gemacht – mit eher leidlichem Erfolg –, und so hatte er sich stets Fragen über sein Leben gestellt, seine Herkunft, sein Wesen und die Fürsorge, die er erhalten hatte. Als Phil von uns und der Lost Boys Foundation hörte, beschloss er, der Organisation Geld zu spenden. Er und seine Frau Stacey hatten sich auf 10 000 Dollar geeinigt. Er rief die LBF an und sprach mit Mary. Sie war begeistert von der versprochenen Spende und fragte Phil, ob er vielleicht bereit sei, mehr als nur Geld zu spenden, ob er
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