Weit Gegangen: Roman (German Edition)
anders und machten uns ständig Sorgen, dass unsere Lebensmittel zur Neige gehen würden. Ich glaube, Phil war immer wieder erstaunt darüber, wie wenig wir wussten und dass er einfach nicht davon ausgehen konnte, dass wir Dinge kannten, die er für selbstverständlich hielt. Er erklärte uns den Thermostat in der Wohnung und wie man einen Scheck ausstellte und wie man eine Rechnung bezahlte und welche Busse von wo nach wo fuhren. Schließlich unterschrieb er den Vertrag für meinen Toyota Corolla mit, der die Zeit, die ich für den Weg zur Arbeit brauchte, ungemein verkürzte. Nun schaffte ich die Strecke zum Möbelgeschäft und dann zum Georgia Perimeter College in einem Drittel der Zeit, die ich mit dem Bus gebraucht hatte. Auf das Busfahren konnte ich gut verzichten.
Alles in allem verlief meine Lernkurve dank Phil steil nach oben, aber ich hielt mich weiter an ihn, und Phil schien sich nicht überlastet zu fühlen. Es machte ihm anscheinend Freude, die einfachsten Dinge zu erklären, wie man Wasser auf dem Herd kocht oder was der Unterschied zwischen Gefrier-und Kühlschrank ist. Er sprach jedes Problem mit derselben ruhigen und ernsten Stimme an und schien nur davon frustriert, dass er nicht mehr tun konnte. Er sorgte sich vor allem um Achor Achor. Achor Achor hatte nicht so einen Betreuer. Er musste sich seine Betreuerin, eine Frau um die sechzig, mit sechs anderen Sudanesen teilen, und das war nicht zu vergleichen mit der konzentrierten Aufmerksamkeit, die ich erhielt. Achor Achor verlor nie ein Wort darüber, und ich sagte ebenfalls nichts, aber uns allen war klar, dass auch er dringend Phils Hilfe benötigte, und es war ebenso offensichtlich, dass Phil das nicht leisten konnte.
Achor Achor war achtzehn Monate länger in den Vereinigten Staaten als ich und natürlich schon sehr viel besser an das Leben hier angepasst. Er hatte ein Auto und eine feste Arbeit, und er besuchte Seminare am Georgia Perimeter College. Er war auch eine der Führungspersönlichkeiten unter den Sudanesen in Atlanta, und er hing ständig am Telefon, vermittelte zwischen zerstrittenen Parteien, organisierte Versammlungen in Atlanta und anderswo und nahm daran teil. Ich war schon eine Weile in Atlanta, als ich das erste Mal zu einer größeren Versammlung ging. Sie fand in Kansas City statt, und dort lernte ich Bobby Newmyer kennen.
Bobby Newmyer hatte die Konferenz ins Leben gerufen und organisiert, und er verfolgte damit einen doppelten Zweck: Erstens war er Filmproduzent, und da er einen Film über die Erlebnisse der Lost Boys plante, wollte er mit uns über das Projekt sprechen. Zweitens wollte er ein landesweites Netzwerk für die Sudanesen in Amerika gründen, das uns helfen sollte, Informationen und Hilfsmittel auszutauschen, Einfluss auf die sudanesische und die amerikanische Regierung zu nehmen sowie den Südsudan mit Ideen und finanziellen Mitteln zu unterstützen.
An einem Wochenende im November 2003 wurden fünfunddreißig von uns nach Kansas geholt, und das war schon was. Jeder von uns bekam ein Zimmer im Marriott-Hotel Courtyard, und es gab ein präzises Veranstaltungsprogramm für die kommenden drei Tage. Der Höhepunkt sollte eine große Versammlung im Tagungsraum der in der Nähe befindlichen Lutherischen Kirche sein. Aber es erwies sich als unmöglich, das Programm einzuhalten. Die Leute kamen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Tagen an, und ein Großteil der Teilnehmer konnte das Hotel nicht finden. Als dann schließlich doch alle da waren, mussten wir uns erst alle gegenseitig auf den neusten Stand bringen. Man hatte uns den Konferenzraum des Hotels zugewiesen, und wir brauchten zwei Stunden, um uns wieder miteinander bekannt zu machen. Da waren Sudanesen, die in Dallas angesiedelt worden waren, in Boston, Lansing, San Diego, Chicago, Grand Rapids, San José, Seattle, Richmond, Louisville und noch vielen anderen Städten. Ich kannte die meisten aus Kakuma oder Pinyudo, wenn nicht persönlich, dann dem Namen nach. Es waren prominente junge Sudanesen, die schon als Teenager öffentlich Reden gehalten und Veranstaltungen organisiert hatten.
Als wir uns an jenem Morgen über alles Wesentliche ausgetauscht und uns schließlich auf unsere Plätze begeben hatten, lernten wir Bobby Newmyer kennen, von dem Mary Williams mir schon erzählt hatte. Mary war sogar die Erste gewesen, die mit Bobby die Idee für einen Film über unser Leben besprochen hatte. Und nun begrüßte er uns alle, während wir im
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