Weit Gegangen: Roman (German Edition)
eigentlich verabredet waren. Sie würden zum Essen bleiben.
Innen war das Haus sogar noch beeindruckender als von außen. Die Decken schienen zehn Meter hoch zu sein. Es gab ein lichtdurchflutetes Wohnzimmer und eine Treppe, die sich nach rechts hinauf zu den oberen Zimmern wand, mit einem Balkon über dem Wohnzimmer. Bücherregale reichten fast bis zur Decke, und in einer Ecke war ein gigantischer Fernseher in die Regalwand eingelassen. Alles war weiß und gelb – es war ein helles und freundliches Haus, voller Luft. Auf einer Küchentheke aus Marmor stand eine schimmernde silberne Schale mit frischem Obst.
Wir gingen auf die Veranda, wo Phil sich um den Grill kümmerte, auf dem sechs Hamburger lagen und langsam braun wurden. Ich lächelte die Babys an, aber sie waren nicht gerade hingerissen von mir. Sie sahen mich an, sahen meine Auberginenhaut, meine seltsam geformten Zähne und brüllten los.
– Mach dir nichts draus, sagte Phil. – Sie weinen immer, wenn sie jemanden zum ersten Mal sehen.
– Habt ihr schon mal Hamburger gegessen?, fragte Phil uns alle.
Achor Achor und ich waren schon in Restaurants gewesen und hatten auch schon mal Hamburger gegessen.
– Ja, ja, antwortete ich.
– Und ihr wisst, woraus ein Hamburger besteht?
– Ja, natürlich, sagte Achor Achor. – Aus Ham , Schinken eben.
Es klingt wie ein blöder Witz, genau wie so viele von unseren Fehlern, unseren Wissenslücken, und die Amerikaner finden das oft lustig. Wir wussten nicht, wie die Klimaanlage funktioniert, als wir in unsere Wohnung zogen. Wir wussten nicht, dass wir sie abschalten können. Eine Woche lang schliefen wir angezogen unter Decken und Handtüchern und allen Laken, die wir besaßen.
Wir erzählten Phil und Stacey diese Geschichte, und sie fanden sie sehr amüsant. Dann erzählte Achor Achor ihnen die Geschichte von der Tamponpackung. Dabei ging es um zwei andere Lost Boys, die vor Kurzem zum ersten Mal mit ihrer Betreuerin, einer Frau um die fünfzig, in einem großen Supermarkt einkaufen waren. Sie konnten fünfzig Dollar ausgeben und hatten keine Ahnung, wo sie anfangen sollten. Unter anderem hatten sie eine sehr hübsche Packung in ihren Einkaufswagen gelegt. Ihre Betreuerin schmunzelte und versuchte ihnen zu erklären, was in der Packung war, nämlich Tampons.
– Für Frauen, sagte sie, unsicher darüber, was die beiden über die weibliche Anatomie und den Zyklus wussten. (Sie wussten gar nichts.) Sie dachte, sie hätte die Aufgabe gemeistert, musste jedoch feststellen, dass die Männer die Packung trotzdem kaufen wollten.
– Sie ist schön, sagten sie, und sie kauften sie, nahmen sie mit nach Hause und stellten sie monatelang als Dekoration auf ihren Couchtisch.
Wir versuchten, beim Essen höflich zu sein, aber es gab so viel Unbekanntes auf dem Tisch der Mays, und wir wussten einfach nicht, wovor man sich in Acht nehmen musste und wovor nicht. Der Salat kam uns anders vor als der Salat, den wir bis dahin gegessen hatten, und Achor Achor rührte ihn nicht an. Das Gemüse kannten wir, aber es war ungekocht, und Achor Achor und ich aßen es lieber gekocht. Frisches Gemüse und Obst aller Art war für uns problematisch. In Kakuma hatten wir so etwas zehn Jahre lang nicht zu essen bekommen. Ich trank die Milch, die man mir hinstellte. Es war mein allererstes Glas amerikanische Milch, und es bereitete mir in den nachfolgenden Stunden ausgiebig Probleme. Damals wusste ich noch nicht, dass ich eine Laktose-Intoleranz entwickelt hatte. Während meines ersten Jahres in Amerika stand ich mit meinem Magen auf Kriegsfuß.
Nach dem Essen warf Phil seine Serviette auf den Tisch.
– Gibt es bei euch bestimmte Redewendungen, die ihr verwendet, so was wie Dinka-Worte der Weisheit?
Ich sah Achor Achor an und er mich. Phil machte einen neuen Anlauf.
– Ich meine, ich interessiere mich für Sprichwörter, versteht ihr? Zum Beispiel, wenn ich sage. »Vorsicht ist besser als Nachsicht«, dann heißt das … Phil stockte. Er sah zu Stacey hinüber. Stacey bot ihm keine Hilfe. – Tja, ich weiß auch nicht, was das genau heißen soll. Aber versteht ihr, wonach ich gefragt habe? Nach irgendetwas, das eure Eltern oder Ältesten euch sagen würden.
Wir vier Sudanesen warfen einander Blicke zu und hofften, dass einem von uns eine zufriedenstellende Antwort einfiel.
– Entschuldigung, sagte Achor Achor und ging Richtung Toilette. Als er ein Stück den Flur hinuntergegangen war, räusperte er sich vernehmlich. Ich sah zu
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