Weit weg ... nach Hause
Özlem küsst die Mutter, schiebt liebevoll die Schwester zur Tür. Frau Gök verlässt hinter den Mädchen das Zimmer und löscht
das Licht. Ende des schönen Films: Luisa starrt in die Dunkelheit der fremden Wohnung und wird plötzlich sehr traurig. Bei
Familie Gök verläuft das Leben anders – viel leiser.
Luisa wünscht sich an einen Ort, an dem es still ist, wo man sie in Ruhe lässt. Vielleicht auf eine einsame Insel: ohne Schulbusse,
ohne Wecker, ohne rauchende zeternde Schauspielerinnen-Mütter, ohne Mathearbeiten. Nur mit singenden Vögeln, mit Muscheln
und Sand und Sonne. Und plätschernden Wellen.
Sie zieht den Reißverschluss der Strickjacke bis zum Kinn und geht in die Küche.
Carlo schlürft den letzten Rest seines Kakaos. Katja sitzt am Kopfende des Tisches, raucht, in der einen Hand eine Kaffeetasse,
liest sie die Tageszeitung. Luisa denkt an Frau Gök, Özlem und die kleine Schwester.
»Das schaffst du nie!«, grinst Carlo sie an.
»Was?« Luisa schaut zu Carlo: Wovon spricht ihr Bruder.
»Den Bus zu kriegen!«, antwortet Carlo und steht auf.
»Ist mir doch egal! Dann nehm ich eben den nächsten!«, pampt sie und setzt sich auf ihren Platz.
»Dann kommst du aber zu spät!«, sagt Carlo und nimmt einen Apfel aus der Obstschale.
»Komm ich nicht! Wirst du sehen!« Luisas Ton wird merklich gereizter.
Carlo lacht ungläubig: »Ich guck mal um neun aus dem Fenster und winke dir zu, wenn du über den Schulhof hetzt!«
»Kümmer dich um deinen Kram, du Arsch!«, zischt Luisa. Ihre Augen sind vor Zorn schmal wie Kartenschlitze von Geldautomaten.
Plötzlich steht Thomas in der Küchentür.
»Luisa? Was soll das? Wie redest du mit deinem Bruder?«
»Arsch bleibt Arsch!«, erwidert Luisa unerschrocken und nimmt eine Scheibe Brot aus dem Korb.
»Hör bitte auf damit! Ich möchte solche Wörter nicht hören. Nicht hier, nicht jetzt, nicht beimFrühstück!«, erwidert der Vater ruhig. Mit Bestimmtheit hat Thomas die Tochter angeschaut und gießt sich jetzt einen Kaffee
ein, als wäre nichts vorgefallen.
Carlo geht grinsend aus der Küche, während Katja die Szene ignoriert und weiterliest. Luisa ist froh, dass sich die Mutter
mit ihrem Zeitungsartikel beschäftigt und sie nicht von drei Seiten zurechtgewiesen wird, wie bei dem Streit um ihr Zimmer.
Da waren sich nämlich alle drei mal ausnahmsweise sehr einig, und zwar gegen sie.
Luisa würde so gern das Gästezimmer beziehen, damit sie nicht immer durch Carlos Zimmer gehen muss. Aber Katja behauptet,
sie brauche den Raum, um ihre Rollen einzustudieren, und habe schon den Glaser für eine Spiegelwand bestellt. Carlo meckert,
dass Luisa zwei Quadratmeter mehr Platz haben könnte, und Thomas argumentiert mit nicht vorhandenem Geld für Renovierungsarbeiten.
Trautes Heim, und Luisa bleibt auf der Strecke. Sie kapiert nicht, warum sie für alles kämpfen muss und warum keiner sie versteht.
Ist es so unbegreiflich, wenn sich ein elfdreivierteljähriges Mädchen Abstand zu seinem neunjährigen Bruder wünscht?
Die Erinnerung an den Streit macht sie noch zorniger auf alle und sie schmiert die Butter drei Zentimeter dick aufs Brot.
Zwischen ihren Augenbrauen bilden sich Falten, und ihre Augenlider zucken. Ungerecht! Thomas weiß doch gar nicht, worum es
bei dem Streit mit Carlo ging. Sie beißt sich auf die Unterlippe, um keine weitere Antwort zu geben. Eigentlich mag sie ihren
Vater gern und er war auch früher immer total gerecht. Früher! Früher hatte Luisa auch schon mal Krach mit anderen, aber sie
war nicht so aufbrausend. Früher lebte die Oma noch, mit der sie über alles sprechen konnte und die sie immer in Schutz genommen
hat, wenn es Ärger gab. Früher war alles leichter, irgendwie besser. Obwohl sie früher auch schon ziemlich oft was vergessen
hat.
Als Luisa noch klein war, sind sie an sonnigen Samstagen stundenlang mit dem Fahrrad am Rhein entlanggefahren und Thomas hat
von den Häusern erzählt, die er bauen würde. Schöne Häuser, in denen Menschen sich wohl fühlen: mit vielen Fenstern und viel
Licht, mit Gärten oder Terrassen. Damals war er gerade mit seinem Architekturstudium fertig und immer gut gelaunt. Jetzt ist
er reichlich oft gestresst. Mit dem Häuserbauen, das hat er verschoben, sagt er, wenn ihnjemand fragt. Er arbeitet als Bauleiter in einer riesigen Firma und hat ›megatotale‹ Verantwortung. Alle Arbeiter tanzen nach
seiner Pfeife.
»Nur weil alle Arbeiter nach deiner
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