Weit weg ... nach Hause
Pfeife tanzen, muss ich das ja nicht auch, oder?«, brüllt Luisa, dann presst sie ihre
Lippen aufeinander und schaut erschrocken zu ihrem Vater.
Sie wollte das gar nicht sagen. Dieser blöde Satz hat sich selbstständig gemacht, rutschte einfach aus ihrem Mund. Und dann
so laut! Jetzt hebt Katja den Kopf und beobachtet Thomas erwartungsvoll. Der Vater vergisst für einen kurzen Moment das Kauen:
Mit vollem Mund und hamsterdicken Backen starrt er auf seine Tochter. Er bleibt ganz ruhig. Sehr ruhig. Sein Gesicht hat allerdings
in der Zwischenzeit die Farbe von Kirschmarmelade angenommen. Er legt in Zeitlupe seine Brotscheibe auf den Teller. Mit einem
dumpfen Schlups rutscht der letzte Bissen an seinem Adamsapfel vorbei. Dann schlägt er mit Karacho die Hand auf den Tisch
und sagt: »Das reicht, Fräulein! In dem Ton nicht!«
Luisa guckt auf ihr Messer und beginnt, komplizierte Blumenmuster in den Butterbelag zu zeichnen.
Thomas schiebt mit Nachdruck erst den Frühstückstellerweg und dann seinen Stuhl nach hinten. Er steht auf, den Blick auf Luisa geheftet.
»Wir unterhalten uns heute Abend!«, sagt er und verlässt ohne Abschied die Küche.
Katja nimmt eine neue Zigarette aus der Packung und schüttelt den Kopf. Luisa hört, wie Thomas den Mantel vom Bügel reißt,
zackig hallt sein Schritt durch den Flur. Dann fällt die Wohnungstür ins Schloss.
Katja legt die Zeitung zur Seite: »Man könnte meinen, Luisa, du spinnst! Ich fass es nicht. Wie redest du mit deinem Vater?«
Katja sucht nach dem Feuerzeug, während Luisa eine Blume nach der nächsten in die Butter drückt.
»Ich geh jetzt ins Bad«, sagt die Mutter betont lässig. »Mir ist es egal, wann du in der Schule aufläufst. Lös deine Probleme
allein.« Die Mutter steckt die Zigarette unangezündet wieder zurück, steht auf und geht in den Flur.
»Carlo, mein Schatz, hast du ein Pausenbrot?«, hört Luisa die zuckersüß säuselnde Stimme.
»Nein, einen Apfel!«, antwortet Carlo ebenso lieblich.
Die Wohnungstür wird geöffnet und in weiter Ferne, am anderen Ende der Welt, schmatzt einKuss auf eine Wange, und Carlo kichert: »Lass-das-Mama-das-ist-eklig.« Und Mutter und Sohn lachen fröhlich, und die Tür schließt
sich, und Katja geht ins Bad.
Und dann ist es plötzlich ganz still.
Luisa starrt auf das mit Blumen verzierte Brot. Große Tränen sammeln sich in ihrem Hals, nehmen ihr die Luft zum Atmen. Wie
fette Schnecken sitzen sie jetzt in den Ecken ihrer Augen, saugen sich fest an ihren Augenlidern, die hoch- und niederschlagen
wie Flügel eines im Netz gefangenen Schmetterlings.
Luisa schluckt. Und sie schluckt noch einmal. Ihr Hals ist völlig ausgetrocknet. Als habe sich ein Baiser in ihrer Speiseröhre
verhakt. Panisch greift sie nach ihrer Teetasse. Die Tasse stößt mit Wucht gegen die Milchtüte und der Tee schwappt in einem
satten Platsch auf ihren Frühstücksteller. Rund um die Brotscheibe breitet sich eine hellbraune Pfütze aus, die in Windeseile
weggesaugt ist.
»Schitte! Scheiße! Mist!« Luisa trinkt den letzten Rest, springt auf, reißt ein Taschentuch aus der Packung und legt es auf
die Tellerpfütze. Die Brotscheibe wiegt mindestens doppelt so viel wie vorher. Brot mit Tee, na bravo! Luisa wartet, bis derTee aufgesogen ist, und schaut zur Uhr. Wenn sie den zweiten Bus erwischen will, muss sie sich beeilen.
Bescheuerter Carlo, immer macht er Ärger. Er soll sie einfach in Ruhe lassen, und Katja soll sie auch in Ruhe lassen und Thomas
auch. Alle sollen sie gefälligst in Ruhe lassen.
Sie greift zum Honigglas und schraubt den Deckel ab. Das Messer taucht in den festen eierschalenfarbenen Honig, und sie verteilt
die süße Masse auf der durchfeuchteten Graubrotscheibe. Dann nimmt sie das Glas in beide Hände und steckt ihre Nase ganz tief
hinein, riecht den Honigduft.
»Kanadischer Kleehonig: Beemaid Honey. In der Weite der kanadischen Prärien geerntet und in Winnipeg, Canada, abgefüllt«,
liest sie auf dem Honigglas. »Kleehonig!«, murmelt sie. In Kanada, in der Prärie, da soll es Wiesen mit so viel Klee geben?
Vor dem Küchenfenster rüttelt der Wind in den Ästen der Birke. Sie blickt hinaus in den dunklen Himmel, und plötzlich, durch
den wunderbaren Honigduft und mit dem tollen klebrigen Geschmack auf der Zunge, wird alles hell und sonnig.
Und vor dem Fenster erstreckt sich eine unendlich weite, saftig grüne Wiese. Überall blüht fliederfarbenerKlee, und durch die
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