Welch langen Weg die Toten gehen
Routinefragen zu beantworten.«
»O ja, ich denke schon. Ist natürlich noch ein wenig von der Rolle, fassen Sie sie also nicht zu hart an. Aber sie ist eine starke Persönlichkeit, sehr zäh. Wie kommen die Ermittlungen voran? Ist schon ein Brief aufgetaucht oder Ähnliches?«
»Ein Abschiedsbrief, meinen Sie? Nicht direkt«, sagte Pascoe, der mit Interesse feststellte, dass sich der Arzt trotz seiner anfänglichen Zurückhaltung nun gern auf den Plausch einließ.
»Nicht direkt? Aber auf dem Schreibtisch lag doch was, wenn ich mich recht erinnere. Ein Buch.«
»Ja, Sie haben ein gutes Gedächtnis, dort lag ein Buch.«
»Und man sagt, dass er alles genauso gemacht hat wie sein Vater bei seinem Selbstmord zehn Jahre zuvor. Stimmt das?«
»Vielleicht. Warum interessiert Sie das, Doktor?«
»Aus rein beruflichen Gründen. Das alles deutet auf eine schwer gestörte geistige Verfassung hin, meinen Sie nicht auch? Sehr schwer gestört.«
»Vermutlich. Aber ich denke, eine gewisse gestörte geistige Verfassung ist bei den meisten Selbstmorden die Norm«, sagte Pascoe. »Danke für Ihre Hilfe.«
Er entfernte sich. Am Ende des Gangs drehte er sich noch einmal um. Lockridge stand noch immer dort, wo er ihn hatte stehen lassen. Er sah zwar nicht aus, als stünde er kurz vor dem Selbstmord, vermittelte aber dennoch den Eindruck, als wäre seine eigene Verfassung alles andere als ungestört.
In der Entbindungsstation wurde er vom großen Saal in ein Privatzimmer geführt. Angenehme Verhältnisse für die Frau eines Sportlehrers, dachte sich Pascoe. Auch wenn sie natürlich auf ihr eigenes Vermögen zurückgreifen konnte. Und auf gutbetuchte Freunde, von denen eine am Bett saß und in jedem Arm ein Baby hielt.
»Guten Morgen, Mr. Pascoe«, sagte Kay Kafka. »Wie nett von Ihnen, dass Sie kommen. Aber Sie waren ja auch bei der Geburt dabei, sozusagen. Sind die beiden nicht großartig?«
Ihr Tonfall war unmissverständlich freundlich, sie lächelte, aber er verstand die Warnung: Setz Helen unter Druck, und du wirst es mit mir zu tun bekommen.
Er stupste nacheinander die schlafenden Babys an, gab gurrende Laute von sich und wollte sich damit über die enthusiastische Baby-Schwärmerei lustig machen, um zu verbergen, dass er die Kleinen am liebsten an sich genommen und gedrückt hätte und dabei vielleicht in Tränen ausgebrochen wäre bei dem Gedanken an den langen, mühseligen Weg, der ihnen und ihren Eltern bevorstand.
»Hallo, Mrs. Kafka. Mrs. Dunn«, sagte er und nahm an der anderen Seite des Bettes Platz.
Die Frau im Bett sah sehr viel besser aus als ihre Besucherin. Aufrecht gegen aufgeschüttelte Kissen gestützt, umgeben von verstreuten Hochglanzzeitschriften, teuren Pralinenschachteln und Körben mit exotischem Obst sowie genügend Blumen, um Eliza Doolittle zwei Wochen zu versorgen, hätte sie wunderbar für das allegorische Porträt des blühenden Sommers Modell sitzen können. Kay Kafka dagegen repräsentierte definitiv den Herbst, allerdings nicht die milde Erntezeit, sondern das Ende, an dem die Wiesen von Reif überzogen waren, Laub verbrannt und Rollläden geschlossen wurden. Auf ihre Art allerdings war sie ebenso bezaubernd wie das strahlende englische Mädchen; die Lilie und die Rose, der Mond und die Sonne.
Pascoe schüttelte den Gedanken ab und wandte sich den Angelegenheiten zu, derentwegen er gekommen war.
»Mrs. Dunn«, sagte er. »Bedaure, wenn ich Sie zu einem so freudigen Zeitpunkt mit der Erinnerung an den Kummer in Ihrer Familie belästige, aber Sie werden sicherlich verstehen, wie wichtig es für den Coroner ist, dass er sich ein möglichst vollständiges Bild davon machen kann, was zu dieser Tragödie geführt hat. Natürlich verstehe ich, wenn Sie sich noch nicht in der Lage sehen, darüber zu reden, und es vorziehen, so lange zu warten, bis Sie wieder zu Hause sind. Wann wird das übrigens sein? Ich wette, Sie können es kaum erwarten.«
Es war eine Wette, auf die er noch nicht einmal sein Kleingeld gesetzt hätte. Ihn beschlich das Gefühl, dass die Zufriedenheit, die Helen Dunn ausstrahlte, mehr daher rührte, dass sie hier, Zentrum aller Aufmerksamkeit, in aller Bequemlichkeit liegen konnte und Geschenke und Glückwünsche entgegennahm, und weniger mit der Aussicht, nach Hause zu kommen, um den langen, beschwerlichen Weg der Elternschaft anzutreten.
»Oh«, sagte sie, »das wird noch ein oder zwei Tage dauern. Natürlich, ich kann es kaum erwarten, aber ich muss auch an Jase
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