Wellentraum
Takt beschleunigte:
Was-wäre-wenn, was-wäre-wenn …
Normalerweise hatte sich einfach jemand verwählt. Heute Nacht jedoch war Caleb dran und brauchte Hilfe. Oder vielmehr brauchte einer seiner Fälle Hilfe, eine arme Frau, heimatlos und verletzt, die am Strand überfallen worden war.
Caleb war schon immer ritterlich gewesen, freundlich zu Außenseitern und Streunern.
»Ich störe dich nur sehr ungern«, sagte er. »Aber hast du noch immer den Hausschlüssel auf der Veranda versteckt?«
»Unter der Hummertonne, wie immer. Aber es macht mir nichts aus, aufzustehen und euch hereinzulassen.« Sie war geschmeichelt, dass Caleb sie um Hilfe bat, anstatt zu ihrer Rettung zu eilen. Geschmeichelt und froh.
Oder vielmehr würde sie es sein, wenn sie nicht so zerschlagen wäre.
Sie kroch aus dem Bett und zog ihr University-of-Maine-Sweatshirt über das T-Shirt mit der Aufschrift »Leben, lachen, lieben, lehren«. Als die Reifen von Calebs Jeep auf der Kieseinfahrt knirschten, war eines der Betten oben bereits frisch bezogen, und der Teekessel stand pfeifend auf dem Herd. Sie drehte das Gas herunter und lief zur Tür.
Caleb stieg die drei Stufen zur Veranda hinauf, mit so langsamen Bewegungen, als hätte er einen langen Tag gehabt. Oder als würde sein Bein wieder schmerzen. »Ich weiß das zu schätzen, Lu.«
Sie war Dank nicht gewohnt und wurde rot. »Sei nicht albern. Das ist auch dein Haus.«
Caleb knurrte. »Ist Dad noch auf?«
»Nein, er … er schlief schon in seinem Stuhl, als ich heimkam.« Sie sah über die Schulter in das leere Wohnzimmer. »Er muss ins Bett gegangen sein.«
»Betrunken?«, fragte Caleb.
»Müde«, wiederholte Lucy mit fester Stimme. Sie wollte nicht noch mehr Unruhe zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder stiften.
»Er hätte heute Abend kommen können. Zu deiner Jahresabschlussfeier.«
»Ich hatte nicht damit gerechnet.«
Caleb schnaubte. »Das hättest du aber sollen. Er …«
Die Beifahrertür des Jeeps öffnete sich, und eine Frau setzte einen Fuß auf den Kies. Jung – ja, ziemlich jung – und von mittlerer Größe, mit großen, dunklen Augen, wallendem dunklem Haar und einer Haut, die so bleich und vollkommen war wie das Innere einer Muschel.
Lucy blieb der Mund offen stehen. Das war Calebs Streunerin?
Sie ging mit einer anmutigen Sicherheit auf das Haus zu, die ihr besser zu Gesicht stand als die zerknitterte Krankenhauskleidung von der Kinderstation, die sie trug. Trotz der Polizeiwindjacke um ihre Schultern und dem blütenweißen Kopfverband wirkte sie elegant, selbstbewusst, exotisch. Wie ein Filmstar in Afrika.
»Das ist Maggie«, sagte Caleb sachlich. Lucy fragte sich, ob ihr Bruder sich der Wärme in seinen Augen und der unterschwellig besitzergreifenden Geste bewusst war, mit der er die Hand um die Taille der Frau legte, um sie die letzte Stufe hinaufzuführen. »Maggie, meine Schwester Lucy.«
Lucy fing diesen Blick aus weit aufgerissenen, dunklen Augen auf und hörte ein Brüllen in ihren Ohren, als käme es von der See. Alles in ihr wurde weit und drückte ihr die Luft aus den Lungen. Sie öffnete den Mund, um Atem zu holen.
Verwirrung huschte über das Gesicht der Frau. »Deine Schwester? Aber …«
Calebs Gesichtsausdruck wurde wachsam. »Was ist los? Kennt ihr euch?«
Der Druck auf Lucys Brust nahm zu. Es war kein Wiedererkennen. Mehr wie Sodbrennen. Sie zog den Atem ein und hielt ihn an, wie sie es sich selbst beigebracht hatte, bis alles in ihr wieder an seinem ursprünglichen Platz war.
»N… nein«, sagte die Frau langsam. »Ich habe nur … Einen Augenblick lang dachte ich … Nichts.«
Lucy holte noch einmal Luft. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Nein. Ich bin müde. Ich würde jetzt gern schlafen gehen.«
Sie hätte sich bedanken können, dachte Lucy. »Dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.«
»Das mache ich schon.« Caleb berührte kurz ihren Arm. »Du machst uns Tee. Ich komme zu dir in die Küche, wenn ich Maggie zu Bett gebracht habe.«
Lucy lächelte amüsiert und ein kleines bisschen wehmütig. Zu Bett? Was hatte ihr Bruder vor? Wollte er ihre eine Geschichte vorlesen und einen Gutenachtkuss geben?
Aber natürlich zog sie ihn nicht damit auf.
»Das Bett ist schon gemacht«, entgegnete sie. »Gute Nacht.«
Das Menschenhaus war dunkel und eng und roch nach Erde und Moder, nach gekochtem Essen und bearbeitetem Metall. Es kam ihr sowohl fremd als auch normal vor, ohne jeglichen Hinweis auf jene erstaunliche Macht, die Margred
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