Wellentraum
können. Nicht, wenn er ihr Fell besaß.
Und sie wusste es, listig, wie sie war, weshalb sie es auch so gut versteckt, ihm so lange standgehalten hatte.
»Ich bin eine Selkie«, keuchte sie. »Was immer du diesem Körper antust, du kannst mich nicht umbringen. Ich werde nicht sterben.«
Tan richtete sich auf und stellte sich über sie.
Neinneinneinneinnein …
»Du wirst nicht sterben«, pflichtete er ihr bei. Er streichelte mit der Hand, die glitschig vom Blut der Selkie war, den Schwanz seines Wirtes, genoss die entsetzte Erregung des Menschen, den ohnmächtigen Zorn des Elementargeistes. »Aber ich kann dich so weit bringen, dass du es dir noch wünschen wirst.«
Nebel verhüllte den Strand und krallte sich in die Felsen wie ein dünner Tränenfilm. Die Bäume erhoben sich in der Morgendämmerung wie die schwarzen Masten von Piratenschiffen. Schweigend und drohend. Die grauen Wellen flüsterten und trauerten.
Die Künstlerin Lisa Stewart fingerte aus ihrer Hosentasche die Plastikbeutel, die sie pflichtbewusst eingesteckt hatte, als sie ihr Cottage mit Buster und Brownie verlassen hatte. Die meisten Leute schliefen im Urlaub aus. Aber der Morgen war die beste Tageszeit für die Hunde, die einzige Zeit, in der Lisa es wagen konnte, sie frei am Strand laufen zu lassen.
Buster raste in fröhlichen Sätzen und Zwischenspurten auf und ab. Brownie schnüffelte an der Wasserlinie an dem, was die Flut zurückgelassen hatte. Seegras. Muscheln. Schnecken.
Möwenschiss.
Ein riesiger weißer Vogel mit gelbem Kopf und einem grausamen gebogenen Schnabel stand im seichten Wasser und richtete seine blau umringten Augen auf die Hunde. Lisa hielt den Atem an. Sie hatte noch nie eine Möwe von dieser Größe gesehen.
Buster stürzte aus dem Nebel, seine tropfende rosa Zunge hing ihm aus dem Maul. Der Vogel kreischte und hob ab. Die Schwingen mit den schwarzen Spitzen schlugen durch die Luft. Bellend stürmte Buster den Strand entlang hinter ihm her.
Lisa grinste. Aber als ihr Hund nicht mehr zurückkam, verging ihr das Lächeln.
Sie pfiff und machte große Schritte, während Brownie treu bei Fuß ging. Ihre Turnschuhe knirschten und schlitterten über Kies und Schiefer. Ihr Atem ging keuchend. Der Geruch von Meer, Leben, Tod und Verwesung hing schwer in der feuchten Luft.
Da.
Erleichterung überkam sie.
War das nicht – ja, da war Buster, und er robbte auf dem Bauch vorwärts, ohne im Mindesten auf den großen weißen Vogel zu achten, der sich nur ein paar Meter entfernt niedergelassen hatte. Seine großen schwarzen Augen waren auf einen rundlichen Felsklumpen gerichtet, der sich von dem nassen Strand wie ein dunkler Edelstein auf einem Gürtel aus gehämmertem Silber abhob. Sein Spiegelbild war ein Fleck im Kies und blutete in das sich zurückziehende Wasser aus.
»Buster!«
Brownie winselte, drückte sich zitternd an ihr Bein. Der Vogel krächzte und stieß sich schwer ab, in die stille Luft hinauf.
Buster wand sich schlangengleich hin und her. Der kleine Dutt auf seinem Kopf bebte. Eine Welle rauschte heran und schwappte wieder fort, nicht ohne das rostfarbene Seegras aufzurühren, das sich auf der einen Seite des Klumpens angesammelt hatte.
Lisa runzelte die Stirn. Das war kein Fels. Ein Delphin, der bei Ebbe gestrandet war? Sie packte die Leine fester und trat einen Schritt näher. Ein Seehund? Oder …
Ihr Magen verkrampfte sich. Sie presste die zitternden Finger auf den Mund.
Eine Leiche.
In ihren Träumen weinten die Himmel Blut, und die Ozeane standen in Flammen. Margred rang um Atem.
Schmerz sprang sie aus dem Dunkeln an – brutal, dreist stieß er sie gegen die Felsen. Ihre Hände brannten. Feuer explodierte in ihrem Kopf, in ihren Knien. Sie versuchte zu schreien, aber das Feuer nahm ihr die Stimme, verzehrte das weiche Gewebe von Zunge und Gaumen und versengte ihren Hals.
Margred wälzte sich hin und her. Ihr Atem ging schwer, ihr Herz raste. Sie brannte, trocknete aus …
Sie stöhnte und öffnete die Augen.
Graue Morgendämmerung leckte an den Kanten der Jalousien, den getäfelten Wänden, der Reihe Bücher von Bradford und Conan Doyle. Auf dem Regal darunter stand das Bild des kleinen Caleb mit Lucy auf dem Schoß.
Caleb. Sie war in Calebs Zimmer.
Und Lucy – nun erwachsen – stand im Türrahmen mit entschuldigendem Gesichtsausdruck und in einem grünen T-Shirt, das die Aufschrift »Clippers« auf der Brust trug. Der Schatten von Margreds Traum umwölkte die Augen der
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