Wellenzauber
ging.
»Sind das deine Eltern?«
»Ja.« Sina nahm Kerstin das Foto im Silberrahmen aus der Hand und stellte es zurück. »Sie … sind tot.«
Manchmal wunderte sie sich darüber, wie sachlich sie inzwischen darüber sprechen konnte. Den Schmerz hatte sie weggeschlossen, an einem Ort in ihrem Innern, den sie nur manchmal aufsuchte, wenn sie allein war.
»Oh.« Kerstin machte einen Schritt zurück und sah sie dann lange an. »Wir arbeiten inzwischen seit einem Jahr zusammen und sind fast genauso lange befreundet, aber jetzt habe ich plötzlich das Gefühl, ich kenne dich überhaupt nicht.« Es lag kein Vorwurf in ihrer Stimme, nur Erstaunen.
Der Pizzabote klingelte an der Tür und verschaffte Sina eine kurze Atempause.
»Lass uns erst essen«, schlug sie vor, »dann erzähle ich dir alles der Reihe nach.«
»Okay.« Kerstin öffnete ihre Pappkarton und machte sich über ihre Salamipizza mit extraviel Mozzarella her. »Aber am meisten interessiert mich natürlich der geheimnisvolle Federico. Wenn er nicht dein Exfreund ist, wer ist er dann? Ich will alles wissen, und zwar von Anfang an.«
Sina legte ihr eigenes Pizzastück wieder zurück. Ihr Magen hatte sich zu einem harten Knoten zusammengeballt, und ihr Mund war plötzlich trocken.
Noch nie hatte sie jemandem die Wahrheit über Federico Bergmann erzählt, und nun saß Kerstin vor ihr, kaute genussvoll an ihrer Salamipizza und wartete gespannt. Sie schob ihren eigenen Pappkarton weg und holte tief Luft. »Er ist … er war nur ein guter Freund.«
»Und deshalb wird dir jedes Mal schlecht, wenn du an ihn denkst? Das ist doch bekloppt«, meinte Kerstin auf ihre direkte Art.
»So stimmt das gar nicht.« Sina wich dem forschenden Blick der Freundin aus.
»Ach nee? Und wie war das letzte Woche bei mir zu Hause? Als im Fernsehen diese Doku über Sardinien lief? Da hast du vor lauter Übelkeit meine schönen Lasagne verschmäht, und ich musste die Riesenportion allein aufessen.«
Sina fühlte sich ertappt. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also schwieg sie.
»Na gut«, fuhr Kerstin fort und leckte sich die Finger ab. »Lass mich mal aufzählen, was ich bisher weiß. Erstens, er war nur ein Freund, zweitens er lebt anscheinend auf der Insel, wo die Schönen und Reichen dieser Welt ihren Urlaub verbringen. Drittens … Tja, das war’s schon. Ein bisschen wenig, findest du nicht?«
Sina nickte. »Ich mach uns Kaffee«, sagte sie dann, um Zeit zu gewinnen, und verschwand in ihrer kleinen Küche. Als sie mit zwei dampfenden Tassen zurückkehrte, hatte Kerstin ihre Pizza verputzt und spähte gerade auf Sinas Karton.
»Bedien dich ruhig.«
»Den Teufel werde ich tun.« Kerstin nahm ihre Tasse entgegen. »Ab sofort ist wieder Diät angesagt.« Dann schwieg sie erwartungsvoll, und für Sina gab es keinen Aufschub mehr. Ihr Hals war trocken, Übelkeit stieg in ihr auf, aber plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihr hervor: »Ich war neun, als ich Federico zum ersten Mal gesehen habe.«
Kerstins Augenbrauen schossen in die Höhe, aber sie schwieg.
Sina räusperte sich. »Er war damals Medizinstudent und zog in unsere Mansardenwohnung. Sein Vater war Deutscher, seine Mutter Italienerin. Federico war aus München zum Studium in unsere Stadt gekommen. Meine Eltern haben ihn wie einen Sohn aufgenommen, und für mich wurde er der große Bruder, den ich mir immer gewünscht hatte.«
»Wie alt war er denn?«
»Zwanzig. Elf Jahre älter als ich. Aber das machte nichts. Er hat gern mit mir gespielt.« Sie fand selbst, dass ihre Stimme den trotzigen Klang des Kindes angenommen hatte, konnte aber nichts dagegen tun. Voller Wehmut berichtete sie der Freundin von den glücklichen Jahren mit ihrem großen »Bruder« Federico und stockte erst wieder, als sie zu dem Tag kam, an dem sich ihr Leben für immer veränderte.
»Meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, als ich fünfzehn war.«
Kerstins Blick flog zu dem Foto im Silberrahmen auf dem Bücherbord.
»Verstehe«, sagte sie leise.
Sina achtete nicht auf sie, sondern sprach wie in Trance weiter: »Ohne Federico wäre ich damals … ich weiß nicht … ich hätte es nicht überlebt. Und in den Wochen danach habe ich auch gemerkt, dass ich ihn liebte. Ich fühlte mich vorher schon komisch in seiner Gegenwart, so ungefähr seit einem Jahr. Aber ich hatte nicht verstanden, was es war. Ich merkte nur, dass ich glücklich war, wenn wir zusammen waren, und dass mir etwas fehlte, wenn er nicht da war.
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