Wellenzauber
Federico schon, das Mädchen sei für ihn inzwischen zu einer fixen Idee geworden. Konnte das sein? Hatte er sich da in etwas verrannt, das gar nicht mehr existierte? Waren seine Gefühle damals wirklich so falsch gewesen, oder hatte er Sina nicht eher nur wie ein Bruder gerngehabt?
Er schaltete in den vierten Gang und zog die Stirn in Falten. Ja, genau! Eine fixe Idee. Das war es. In Wirklichkeit empfand er nichts mehr für Sina, einzig seine Erinnerung spielte ihm manchmal noch einen dummen Streich.
Es war an der Zeit, frei zu werden. Frei für Lorella und die Bilderbuchzukunft, die ihn an ihrer Seite erwartete.
Endlich erreichte er die Via Redipuglia und hatte freie Fahrt. Federico gab Gas. Das letzte Fährschiff dieses Tages verließ die Bucht von Olbia in Richtung Civitavecchia und schickte einen lauten Gruß über das Meer. Federico wusste plötzlich, was er tun würde. Der Gedanke war ihm nicht neu, aber bisher hatte er keine Gelegenheit gehabt, ihn in die Tat umzusetzen. Er würde nach Deutschland fliegen, so bald wie möglich. Er musste Sina nur einmal wiedersehen, um sich diese fixe Idee endlich aus dem Kopf zu schlagen. Erleichterung durchflutete ihn, und er überhörte die leise Stimme, die ihn vor seinem Plan warnte.
Kurz bevor er das Gebäude aus dem 18. Jahrhundert erreichte, in dem seine Praxisräume und auch seine Wohnung untergebracht waren, klingelte erneut sein Handy.
»Ich bin fast da, Liebling«, sagte er ganz bewusst. »Und nachher machen wir uns einen schönen Abend.«
»Das freut mich«, erwiderte Martha Tommasini, eine dreiundsechzigjährige Hebamme, und lachte laut. »Aber wenn du vorher noch bei den Mareddus vorbeischauen könntest, wäre das prima. Filippas Zwillinge wollen doch ein bisschen früher als geplant auf die Welt kommen.«
Federico lief dunkelrot an und war heilfroh, dass ihn im Auto niemand sehen konnte. »In Ordnung, Martha. Gib mir zehn Minuten. Ich sage nur Lorella Bescheid, dass sie die Patientinnen in der Praxis heimschickt.«
Er hörte Marthas Lachen noch, als er die Verbindunglängst unterbrochen hatte. Dann drückte er die Schnellwahltaste für die Praxis.
Lorella nahm die Nachricht ruhig und professionell entgegen, dennoch spürte er ihre Enttäuschung. Sie würden sich heute nicht mehr sehen.
»Morgen«, versprach er schnell. »Morgen nehme ich mir den ganzen Abend frei für dich.« Federico wunderte sich nur, warum er selbst nur Gleichgültigkeit empfand.
3. Kapitel
An diesem letzten Sonntag im Monat war es ruhig auf der Entbindungsstation. Nur in Zimmer 110 lag eine vierzigjährige Patientin in den Wehen. Marisa Vignoli, eine Hamburgerin italienischer Abstammung, hatte sich ganz bewusst für die Geburtsklinik Sankt Marien entschieden und war schon vor zwei Tagen eingetroffen. Hier war im letzten Jahr ihr Neffe zur Welt gekommen, und hier sollte auch für sie alles gut gehen.
Sina und Kerstin warfen sich einen schnellen besorgten Blick zu.
»Eine Nullpara Viertgravida«, murmelte Kerstin, was übersetzt hieß: Marisa hatte bereits drei frühere Schwangerschaften hinter sich, aber noch kein Kind geboren. »Außerdem Steißlage. Und die Herztöne des Babys könnten stärker sein.«
Sina war nur hereingekommen, um zu sehen, ob ihre Kollegin Zeit für einen Kaffee hatte. Ihre eigenen Patientinnen brauchten sie im Moment nicht. Aber nun vergaß sie den Kaffee und studierte eine Weile das Krankenblatt.
»Du musst Florian anpiepsen«, sagte sie dann. »Er soll entscheiden, ob es noch eine Chance gibt, das Baby zu drehen.«
Im Grunde wussten sie beide, dass es dafür zu spät war. Trotzdem — die Regeln für Hebammen waren klar. Bei jeder Art von Komplikation musste augenblicklich der diensthabende Arzt hinzugezogen werden.
»Hab ich schon.« Ein schnelles Aufleuchten in Kerstins Augen ließ Sina leise aufseufzen. Ausgerechnet in den Schwarm der gesamten Klinik hatte sich Kerstin verliebt, und um die Dinge noch komplizierter zu machen, suchte Florian neuerdings Gelegenheiten, um mit Sina allein zu sein. Dabei interessierte sie sich nicht im Geringsten für ihn. In ihrem Herzen war kein Platz für einen anderen Mann, seit Federico … Nein! Falsch! In ihrem Herzen war für überhaupt keinen Mann Platz.
Sina ging zum Fenster und sah hinaus. Der Sommer in Norddeutschland glich in diesem Jahr eher einem Spätherbst. Nur selten wagte sich ein Sonnenstrahl zwischen den grauen Wolken hervor, und hier und da fielen schon die Blätter von den Bäumen. Ganz so,
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