Wellenzauber
menschenleere und wilde Gegend, deren Name genau seine Form beschrieb: ein Berg über dem anderen. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie er manchmal tagelang durch enge Schluchten und über weite Plateaus gelaufen war, und die einzigen Lebewesen, die er gesehen hatte, waren eine kleine Herde Mufflons gewesen und einmal, weit oben in den Lüften, einen Königsadler. Dies waren die kostbaren Momente gewesen, in denen er sich auf der Insel zu Hause gefühlt hatte. Bei Anblick eines in sich verschlungenen Wacholderbaumes oder einer jahrhundertealten Steineiche ließ die innere Zerrissenheit aus Sehnsucht und Schuldgefühl ein wenig nach, und es schien ihm, als könne er freier atmen.
Aber es war schon lange her, dass Federico Zeit für einen Ausflug gehabt hatte. Er war nun mal Arzt und kein Büroangestellter, der sich jedes Wochenende freinehmen konnte.
»Verdammt!« Federico stieg auf die Bremse. Die alte Frau, die plötzlich vor ihm aufgetaucht war, drohte ihm mit ihrem Stock, als wäre er schuld daran, wenn sie unter seinem Wagen landete. Im nächsten Moment verschwand sie, und Federico fuhr weiter. Er dachte daran, wie er vor zehn Jahren voller romantischer Vorurteile auf die Insel gekommen war. Er hatte ein friedliches Paradies erwartet und fand sich schon mitten in einer ständig wachsenden Stadt wieder.
Das Paradies entdeckte Federico erst viel später, als er Zeit fand, Sardinien zu erkunden, und sich in den Supramonteverliebte. Dort mischte sich der würzige Duft von Wacholder mit der salzigen Luft des Meeres und ließ ihn ein wenig zur Ruhe kommen.
Sein Handy klingelte und brachte ihn in die Gegenwart zurück. Er schaltete die Freisprechanlage ein und meldete sich.
»Wo bleibst du?« Lorellas Stimme drang hoch und schnell an sein Ohr. »Wir haben noch vier Patientinnen im Wartezimmer.«
Federico unterdrückte einen Seufzer und bog in eine Nebengasse ein. Hier herrschte kaum Verkehr, dafür musste er aufpassen, nicht rechts oder links an einer Hauswand entlangzuschrammen.
»Ich bin bald da«, sagte er. »Aber die Straßen sind hoffnungslos verstopft.« Seine Praxis lag direkt an der Hafenbucht, in Via Redipuglia .
»Warum nimmst du nicht eine Abkürzung?«
»Das versuche ich ja gerade. Könnte aber sein, dass ich mein Auto vorher zusammenfalten muss.« Das war ein alter Scherz zwischen ihm und seiner Sprechstundenhilfe. Lorella wettete an jedem Monatsersten, dass er im Laufe der nächsten vier Wochen mindestens eine neue Beule oder einen tiefen Kratzer in seinen alten Opel rammen würde, Federico hielt dagegen. Meistens verlor er, was in den engen Gassen der Altstadt kein Wunder war, und dann musste er seinen Wetteinsatz einlösen: ein romantisches Abendessen.
»Bene«, sagte Lorella, und er konnte förmlich sehen, wie sie breit grinste. »Es wird höchste Zeit für die erste Beule, wir haben schließlich Monatsmitte, und ich will unbedingt das neue Fischrestaurant an der Mole ausprobieren. Die sollen die besten Miesmuscheln von ganz Olbia haben, und das will was heißen.«
Auch Federico musste grinsen. »Ich versuche mein Bestes«, gab er zurück und beendete das Gespräch.
Er kam jedoch ohne Zwischenfälle und ganz ohne Beulen durch die Gassen, und als er kurz darauf freie Fahrt hatte, nahm er sich vor, Lorella auf jeden Fall bald wieder einzuladen. Seit etwas mehr als einem Jahr war sie nicht nur seine zuverlässige Assistentin, sondern auch seine Freundin. Und eine wunderschöne Frau obendrein. Als Tochter eines englischen Offiziers und einer Italienerin von der Insel war Lorella Ward groß und blond, mit den dunklen Augen ihrer Mutter und dem hellen Teint aus den Midlands. Mit Anfang dreißig stand sie in der Blüte ihrer Schönheit und besaß mehr Verehrer, als sie zählen konnte. Dummerweise liebte sie aber nur ihren Chef, und Federico wusste, dass sie die Hoffnung so leicht nicht aufgeben würde.
Er mochte sie. Sehr sogar. Und er wusste, sie würde die beste Ehefrau für ihn abgeben, die er sich nur wünschen konnte. Eine temperamentvolle Liebhaberin und eine perfekte Mitarbeiterin. Was konnte er mehr vom Leben erwarten? Manchmal war Federico schon kurz davor gewesen, ihr einen Antrag zu machen. Doch jedes Mal war er davor zurückgeschreckt, als sich ein Paar graue, vorwurfsvolle Augen in sein Gesichtsfeld geschoben hatten.
Sina — nach zehn Jahren noch immer Sina. Würden denn seine Schuldgefühle niemals vergehen? Und was war mit den anderen, den verbotenen Gefühlen? Manchmal glaubte
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