Weller
auch zu ihr zurückfinden. Dabei bin ich wirklich kein Schriftsteller. Ich entbehre jeglicher gelassener Distanz zum Gegenstand meines Berichts. Die Ereignisse haben gezeigt: Obwohl ich vieles sehr genau bemerke, entgeht mir dennoch Entscheidendes, wenn es darauf ankommt. Wann immer ich aus heutiger Sicht an jenen Tag zurückdenke, an dem alles anfing, stelle ich mir vor, alles wäre völlig anders gekommen. Wenn ich nur ein wenig wachsamer gewesen wäre und zugleich eine Spur souveräner, weniger leicht aus der Fassung zu bringen, als ich es bis dahin von mir selbst angenommen hatte. Ich versuche mich damit zu trösten, dass ich durch das, was passiert ist, entscheidende Erfahrungen gemacht habe, die mich geformt, ja in gewisser Weise in der Entwicklung meiner Persönlichkeit weitergebracht haben. Doch kann ich diesem Urteil wirklich vertrauen oder ist es nicht wieder nur mein Hang zur Selbstüberschätzung, elende Hybris, die mich dies konstatieren lässt?
***
Der Morgen jenes Tages, an dem alles begann, ist mir noch gut im Gedächtnis, denn ich spürte seit dem ersten Augenaufschlagen eine Müdigkeit, die das Attribut bleiern wahrlich verdiente. Dem Wecker hatte ich zweimal mit einem Schlag auf die Schlummertaste Stille verordnet. Erst beim dritten Alarmsignal war es mir gelungen, mich aus der Umklammerung des Schlafes zu befreien und ins Bad zu gehen. Ein einsames Frühstück im Stehen am Küchentresen – Ellen schlief noch – Kaffee aus der übergroßen Smileytasse, die wir beide schon hundert Mal aussortieren wollten, die jedoch so praktisch war, dass wir das immer wieder vergaßen, dazu Toast mit Marmelade, selbst eingekocht von Frau Sänger. Noch im Auto, auf dem Weg zur Außensprechstunde im Rathaus von Warin, sperrte mir wiederholtes Gähnen den Mund auf, rieb ich mir die müden, trockenen Augen und sann, mit Blick auf die vorüberziehenden Straßenbäume und die in frischem Grün stehenden Felder über den Grund meiner Erschöpfung nach. Die Wahrheit ist: Es gab keinen. Am Abend zuvor war ich nach einem entspannten Fernseh- und Leseabend mit Ellen gegen elf zu Bett gegangen, ich war zurzeit mit nichts übermäßig Anspruchsvollem beschäftigt und nach unserem Frühjahrsurlaub in der Provence hätte ich noch für mindestens drei, vier Monate Berufsleben erholt genug sein müssen. Warum war dem nicht so? Auf dem Beifahrersitz summte das Telefon und riss mich aus meiner Grübelei.
»Moin Uwe.« Kriminalhauptkommissar Dietmar Holter war so ziemlich der Einzige, der mich beim Vornamen nannte. Für alle anderen, egal ob Duzfreund oder nicht, war ich schlicht und einfach nur Weller. Selbst meine Angetraute machte da keine Ausnahme. Wenn mein Seglerkollege Holter nicht gewesen wäre, würde ich beinahe vergessen haben, wie mein eigener Vorname lautete.
»Sag mal, wie läuft der Zorn? Alles im grünen Bereich?« Wolfgang Zorn befand sich seit rund neun Monaten nach einer zwölfeinhalbjährigen Haftstrafe wegen Totschlags bei mir in Betreuung. Und Dietmar Holter war auf Seiten der Wismarer Polizeiinspektion für die Überwachung der entlassenen Gewalttäter unter Führungsaufsicht zuständig. Gemeinsam waren wir für das tätig, was der Amtsschimmel ›Führungsoptimierte Kontrolle und Sicherheit, kurz FOKUS/MV‹ benannt hatte. Erklärtes Ziel dieses Programms war es, Sexual- und Gewalttäter im Anschluss an ihren Gefängnisaufenthalt intensiver zu kontrollieren. Von Resozialisierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft, die ich in meiner Ausbildung noch als Sinn und Zweck meines professionellen Handelns vermittelt bekommen hatte, war längst nicht mehr die Rede. Beim Einsatz der neuen Überwachungsmethoden, bis hin zu den unsäglichen Fußfesseln, ging es nur noch um Ausgrenzung. Holter und ich waren vermutlich in ganz Nordwestmecklenburg die beiden einzigen ›alten Recken‹, denen das nicht schmeckte.
»Keine besonderen Vorkommnisse«, beantwortete ich Holters Frage. »Wieso fragst du, Dietmar? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?« Meine innere Warnsirene schrillte. Wolfgang Zorn war ein angenehmer Klient. All die schweren Körperverletzungen seiner kriminellen Laufbahn inklusive der letzten Tat – ein tödlicher Schlag auf den Kopf seines Kontrahenten bei einer Kneipenschlägerei – hatte er unter starkem Alkoholeinfluss begangen. Nun versuchte er in meinem Anti-Gewalttraining zu lernen, ganz allgemein seine Aggressionen besser zu kontrollieren und im Speziellen gelassener mit Provokationen
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