Weller
Vormittagsverkehr stetig an den viktorianischen Häusern und den gefegten Bürgersteigen vorbeifließt, frage ich mich, ob diese Zeit, die langen, einsamen Stunden der Deckswache, die langen Tage des Blauwassers, fernab von Küste und Festland, ausgereicht hat. Weiß ich nun, wer ich bin? Ob ich als Bewährungshelfer noch etwas tauge? Hat die Meeresbrise die Scham, Reue, Zweifel, diese neue Unsicherheit, die mich lähmte, fortgeblasen, die salzige Seeluft all den emotionalen Ballast von meiner Seele abgeschmirgelt? Ich bin mir nicht sicher.
Hätte ich bei meinen Zusammentreffen mit Matzke nicht spüren müssen, dass er mehr war als der einfältige Sonderling, dass in ihm diese furchtbare Wut gärte, die ihn hatte zum Mörder werden lassen? Wo waren meine Empathie, mein Gespür, die Intuition geblieben, auf die ich mir stets so viel eingebildet habe?
Sie haben versagt. Ich habe versagt.
Und ich bin nicht der, der ich jahrelang geglaubt habe zu sein. Das Bild, welches ich von mir selbst gehabt habe, war lediglich ein Wunschbild. Ich bin nicht der allseits objektive, jedem Menschen unabhängig von seinem Äußeren und seinem Gebaren vorurteilsfrei Entgegentretende. Ich habe meine moralischen Grundsätze, die Maximen meines professionellen Handelns leichtfertig über Bord geworfen, sobald ich Ellens Leben in Gefahr glaubte. Und was beinahe am schlimmsten ist: Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, sondern wie ein ferngesteuerter Roboter oder vielmehr instinktiv und unreflektiert gehandelt und einen meiner Klienten ohne zu zögern ins Unglück gestürzt. Das kann ich mir nach wie vor am wenigsten verzeihen.
Noch einmal öffne ich Ellens letzte E-Mail.
Heute war die Urteilsverkündung. Ich bin nicht hingefahren, aber Dietmar hat mich angerufen. Matzke hat Lebenslänglich für den Mord an Marlen Hausmann, den Mordversuch am Wonnemar und den an mir bekommen. Noch immer bin ich erleichtert darüber, dass er gleich nach seiner Verhaftung alles gestanden hat. Ich weiß nicht, wie ich es verkraftet hätte, wenn ich ihm, als Zeugin, im Gerichtssaal hätte gegenüberstehen müssen. Doch die Indizien und sein Geständnis reichten zum Glück für eine Verurteilung aus.
Übrigens habe ich lange überlegt, ob ich dir dies mitteilen soll. Ich weiß nicht, ob dir dieses Wissen hilft oder dich nur weiter in dieses Gedankenkarussell zieht, das dich von mir fortgetrieben hat. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühle? Mein geliebter Mann rettet mir das Leben und verschwindet dann aus eben diesem, noch bevor ich verarbeiten kann, was uns beiden zugestoßen ist. Ich habe verstanden oder glaube zumindest, verstanden zu haben, was du dir vorwirfst. Doch sieh es einmal so: Die Taten sind aufgeklärt, Matzkes Entwicklung zum Serienmörder ist gestoppt. Zorn war zwar unschuldig, was diese Taten anbelangt, aber er hat unabweislich gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen. Du hast ihm gegenüber keinen Fehler begangen, du hast lediglich deinen Ermessensspielraum eng ausgelegt. Sagst du nicht selbst immer, dass dies gängige Praxis bei deinen jüngeren Kollegen ist, denen, die immer auf Nummer Sicher gehen? Es ist sicherlich nicht lobenswert, dass du dieses eine Mal auch so gehandelt hast, aber kannst du dir das nicht verzeihen? Was für dich wie ein Fehler aussieht, wirkt auf andere wie korrektes Verhalten. Sei nicht so verdammt streng mit dir, Weller.
Und komm heim, bitte.
E.
Ich schließe den Account und zahle beim Keeper. Auf dem Weg zum Quayside Hotel , in dem ich mich, mit Blick auf den Hafen, eingemietet habe, schaue ich in den naivblauen Himmel und mit einem Mal steht mir der gesamte Fall Matzke, der mich letztendlich das Sabbatjahr hat beantragen lassen, mich fortgetrieben hat von allem, was ich bisher gekannt, geschätzt und geliebt habe, wieder vor Augen. Die Polizei, die Matzke verhaftet hat, stellte bei ihm den Smaragdring, den sein erstes Opfer, die Studentin, zur Tatzeit getragen hatte, sicher. Es war der Ring, der mir auf einem seiner obskuren Gemälde aufgefallen war, den er seinem Opfer nach der Tat vom Finger gezogen und als Fetisch mitgenommen hatte. Matzke hat die Studentin, genauso wie mich, als Ausstellungsbesucherin im Schloss Plüschow kennen gelernt. Sie hat, genau wie ich, auf seine Malerei, die er ihr vertrauensvoll gezeigt hat, reagiert und ihn ausgelacht. Die zweite Frau ist offenbar zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, jedenfalls ließ sich kein Motiv für den Säureüberfall auf sie
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