Weller
nur aus Polizeikreisen konnte ja das von der Menge zur Horrorstory entstellte Wissen um Zorn Vergangenheit stammen.
»Neulich war bei dem eine Razzia in der Wohnung. So ist alles herausgekommen.« Mehr und mehr wurde mir klar, dass ich inmitten einer brodelnden Gerüchteküche stand. Entsprechend heiß wurde mir nun. Trotzdem versuchte ich es noch einmal mit einer auf Vernunft gerichteten Ansprache.
»Wenn der«, ich deutete auf Zorns Haus, »im Knast war, dann hat er doch seine Strafe abgesessen.« Weiter kam ich nicht mit meiner Lektion Staatsbürgerkunde für Anfänger. Der dicke Kerl mit dem Fischerhemd trat zu uns und unterbrach mich.
»Pah, die einzige Strafe für diese Schweine ist die Todesstrafe. Da gibt es kein Parton.«
Es brauchte eine Sekunde, bis ich kapierte, dass er ›kein Pardon‹ forderte. Er war genau so groß wie ich, und seine grauen Augen starrten mich angriffslustig an.
»Das sehe ich anders. Kein Mensch hat das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen, aus welchen Gründen auch immer.«
»Genau, deshalb hat das Schwein da sein Leben verwirkt. Der muss weg, hat seinen Platz in unserer Volksgemeinschaft verwirkt.«
Ich rüstete mich innerlich für den verbalen Kampf gegen diese dumpfe, volkstümelnde Menschenfeindlichkeit, die ich aus unzähligen Auseinandersetzungen mit den Neonazis unter meinen Klienten kannte.
»Was soll das für eine Volksgemeinschaft sein, der es so eklatant an Menschlichkeit, an Werten wie Sühne und Vergebung fehlt? Zu so einer Gemeinschaft möchte ich nicht gehören.«
»Unser Deutschland, unser Volk kann keine Verbrecher in seinen Reihen gebrauchen, besonders solche, die unsere Frauen und Kinder bedrohen.« Er blähte seinen Brustkorb noch weiter auf, seine Augen funkelten. Da fiel es mir ein: Der Kerl war ein in der Region berüchtigter NPD-Kader, einschlägig vorbestraft, unter anderem, weil er einen gewalttätigen Überfall auf eine Jugendgruppe zu verantworten hatte. Es war also nicht weit her mit seinem Schutzgedanken an ›unsere Kinder‹. Alles weitere Diskutieren mit diesem Mann war pure Zeitverschwendung, befand ich. Es gab hier für mich deutlich Wichtigeres zu tun.
Wenig später stand ich in Wolfgang Zorns Küche, die bis zur halben Höhe mit Holzpaneelen verkleidet war. Ich atmete die von angestauten Alpträumen schwangere Luft seiner Wohnung und merkte, wie stark sich dort unten vor der Haustür meine Nackenmuskulatur verspannt hatte. Das Raunen und die vereinzelten Rufe der Demonstranten waren hier nur noch eine Art Hintergrundgeräusch, ähnlich wie Meeresrauschen, allerdings im Gegensatz zum Wellenklang alles andere als entspannend. Zorn stand an den Küchenschrank gelehnt, eine Zigarette im Mundwinkel und deutete auf den einzigen Stuhl.
»Kaffee?«
Ich blieb stehen und nickte. »Wie hältst du das aus? Seit wann geht das schon so?«
»Schlecht.« Er zeigte auf eine Sammlung von leeren Bier- und Schnapsflaschen unter der Spüle, die ich offiziell nicht gesehen haben durfte. »Bis die Bullen hier aufgekreuzt sind, war alles okay. Die Leute hier im Haus bleiben für sich, aber man grüßt sich und wechselt schon mal ein paar Worte über das Wetter. Das ist jetzt vorbei. Siehst du die da, in der ersten Reihe?« Ich trat ans Fenster und spähte durch die Gardine hin-unter auf die selbst ernannten Montags-Demonstranten.
»Die mit der roten Jacke wohnt in Nummer 4 und hat mit dem Protest angefangen. Hat die Runde in den Häusern gemacht, eine Unterschriftenliste herumgereicht mit der Forderung, ich solle sofort ausziehen. So fing es an. Eine Woche später stand die erste Demo vor dem Haus.« Seine Stimme zitterte. »Das da unten sind längst nicht alles Nachbarn. Die meisten hier im Haus halten sich von denen fern. Aber sich für mich einsetzen, das fällt ihnen natürlich auch nicht ein. Weshalb auch – ich bin ja wirklich ein Totschläger und wohne erst kurze Zeit hier. Die wollen doch auch nur ihre Ruhe. So wie ich.« Er ließ die Schultern hängen, erinnerte sich seines Angebots und griff nach der Kanne der Kaffeemaschine. Ich sah, wie seine Hand dabei zitterte. Er trank also wieder. Das war fatal, verschlechterte seine Prognose drastisch. Schließlich hatte er alle seine Straftaten im Vollrausch begangen. Er war keiner der klassischen Alkoholiker, die ständig trinken müssen. Doch fiel es ihm deutlich leichter, völlig abstinent zu leben, als kontrolliert Alkohol zu konsumieren. Das hatte er zusammen mit seiner Suchtberaterin in den
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