Weller
jenem Moment getan, wenn ich meine Sprechstunde bei der dortigen Amtssekretärin abgesagt hätte und umgekehrt wäre. Zorn musste mit der Situation allein klarkommen. Und ich sollte meinen Allmachtanspruch ein wenig herunterschrauben, sagte ich mir, als ich wenig später die Wariner Rathausstufen emporstieg. Wenigstens war meine Müdigkeit verflogen.
***
Die Zeit stand still. Die Sekunden verharrten im Regal zwischen den Aktenordnern, starrten mit lidlosem Blick auf die Besucherecke mit den beiden Stühlen, auf den überladenen Schreibtisch und das geschlossene Fenster, das den tosenden Verkehrslärm aussperrte. Von Zeit zu Zeit löste sich eine der Sekunden, tropfte hinab auf den Linoleumboden, verging mit einem unhörbaren Seufzer. Dann stand wieder die Zeit still. Andere Sekunden starben, ebenso lautlos, auf den ausdruckslosen Gesichtern von Zorn und mir, die wir vis-á-vis an dem runden Tisch saßen.
Ich räusperte mich; mein Gegenüber studierte weiter seine bis zu den Kuppen abgekauten Fingernägel. Ich legte meinen Finger in die Wunde.
»Die Polizei war vor fünf Tagen bei dir.« Es war mehr Feststellung als Frage. Zorn nickte. Schwieg. Ich musterte mein Büro, als wäre ich zum ersten Mal hier, versuchte so, emotional Distanz zu schaffen. Wäre ich doch bei der Vernehmung dabei gewesen! Was war nur passiert, das Zorn mir gegenüber so verstockt hatte werden lassen?
»Wie ist es gelaufen?« Ich klang, als wäre er bei einem Bewerbungsgespräch gewesen! Doch wie anders sollte ich ihm entlocken, was passiert war? Zorn schwieg, fingerte ein rotes Einwegfeuerzeug aus der Hosentasche und begann, es zwischen den Fingern einer Hand kreisen zu lassen. Unwillkürlich musste ich bei diesem Anblick an jene Geschicklichkeitsübung denken, bei der man die Spitze eines Messers in rasender Geschwindigkeit zwischen gespreizten Fingern in die Tischplatte rammt. Was war nur los mit ihm? Ich war mir im Klaren, dass ich naturgemäß nur einen verschwindend kleinen Einblick in die Lebensrealitäten meiner Klienten bekam, dass mir meine Jungs und Mädels , trotz unseres oft vertrauten Umgangstons, ihr Innenleben allenfalls in wohl dosierten Ausschnitten offenbarten. Doch zu Wolfgang Zorn hatte ich einen recht guten Zugang bekommen. Er hatte er sich in unseren Einzelstunden, wie auch beim wöchentlichen Anti-Gewalttraining, kooperativ gezeigt, vertrauensvoll Einblicke in sein Leben eröffnet und den Eindruck vermittelt, meinen Anregungen bereitwillig entweder nachzugehen oder sie zumindest zu überdenken. Ich hatte ihn als Gesprächspartner schätzen gelernt; und so war es mir auch nicht unangenehm, als Zorn irgendwann im letzten Spätsommer anfing, sonntags am Alten Hafen an den öffentlichen Boulespielen teilzunehmen. Ganz so wie ich selbst. Zorn war weit davon entfernt, Eloquenz zu beweisen, dennoch hatte er immer einen Spruch parat und manchmal waren seine Scherze tatsächlich lustig. Beim Boule hatte er beispielsweise einmal gemeint: »Wenn du weiter mit mir spielst, pass auf, dass du deine professionelle Distanz nicht verlierst.«
So verdruckst und wortkarg wie heute war er noch nie gewesen. Nun, vielleicht in unseren ersten Stunden; aber inzwischen schon lange nicht mehr. Was hatten die Kripoleute bloß mit ihm angestellt? Oder war etwas ganz anderes passiert? Das Bild der toten Studentin, das die Lokalzeitung veröffentlicht hatte, blitzte in meiner Vorstellung auf.
»Magst du drüber reden?«
Zorns fliegender Blick stoppte für eine Sekunde auf meinem Gesicht, seine Rechte spielte weiter mit dem Feuerzeug. Ich atmete tief und sagte mir, dass das Ausüben von Druck bei Menschen wie Zorn stets zum Gegenteil des erwünschten Ergebnisses führt.
»Sie sind in meine Wohnung gekommen und haben mich zum Mord an der Studentin vernommen«, fand Zorn seine Stimme wieder. Ich beherrschte mich, ihn zu unterbrechen, und wartete auf seine weiteren Einlassungen. Seine Miene blieb völlig ruhig, doch ich wusste, wie schnell sich das lange Gesicht mit der Adlernase und den Kohlebrauen zu einer Maske der unverhohlenen mörderischen Wut verziehen konnte. Zweimal war das im Antigewalttraining bisher passiert und ich war beide Male zusammengezuckt und in innere Habachtposition gegangen. Nicht immer können die Klienten sich bremsen. Deshalb sind sie ja in meiner Gruppe – um genau das zu lernen.
»Das müsstest du doch aus dem Effeff kennen, Vernehmungen durch die Polizei.« Ich hoffte, er würde mir nicht gleich an die Gurgel
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