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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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hast. Nimm zur Kenntnis, dass ich hier bin. War er es leid, darauf zu warten, dass ich mir alles zusammenreimte? Sollte mich diese kleine Eskalation anspornen, etwas zu unternehmen?
    Doch es passte nicht. Falls Officer Jensen ein Dämon war und mich töten wollte, hätte er es jederzeit tun können. Und überhaupt – wie wäre er zum Dämon geworden? Selbst wenn Niemand ein geschlechtsloser Gestaltwandler war, der sich ebenso als Mann wie als Frau ausgeben konnte, warum hätte er sich für Mr Jensen entscheiden sollen? Marci und ich hatten kaum Kontakt gehabt, als das erste Opfer gestorben war … Ich konnte nicht mehr denken, weil mir übel wurde. Wir hatten vor dem ersten Mord nicht geredet, aber unmittelbar danach hatten wir damit angefangen, weil Marcis Dad ihr von mir erzählt hatte. Hatte er die ganze Sache inszeniert, uns zusammengebracht und die Tatorte sorgfältig hergerichtet, weil er ganz eigene Ziele verfolgte? Was führte Niemand im Schilde?
    Diese Theorie war mehr als fragwürdig. Sicher, wenn Officer Jensen ein Mensch war, hatte er gute Gründe für seinen Hass auf Mr Coleman, der seine Tochter belästigt hatte. Doch ein als Officer Jensen verkleideter Dämon hätte diesen Hass nicht empfunden. Warum sollte ein Dämon von seinem bisherigen Verhalten abweichen und Coleman töten, wenn die Augen jedes anderen Opfers seinen Zwecken ebenso gut dienten? Es gab zu viele lose Enden, die ich nicht zu verknüpfen wusste.
    Andererseits fügten sich viele Puzzleteile perfekt ein. Marcis Dad hatte uns zusammengebracht. Marcis Dad hatte ihr das Geheimnis von Colemans Augäpfeln verraten, weil er wusste, dass sie es mir weitersagen würde. Marcis Dad.
    Marci.
    Ich betrachtete sie, wie sie da zusammengekrümmt und schluchzend auf dem Bett lag. War sie es? Wenn Niemand eine Gestaltwandlerin war, dann konnte sie jede beliebige Gestalt annehmen – Marci, Marcis Dad, sogar meine Mutter. Falls Marci eine Dämonin war, so erklärte dies auch, warum sie so freundlich zu mir war. Sie war ein kluges, beliebtes, hübsches Mädchen und hätte mir vor drei Wochen nicht einmal die Uhrzeit verraten. Was plante sie? Was wollte sie? Wenn sie mich töten wollte, warum hatte sie es dann nicht getan, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Warum lag sie da und tat so, als weine sie?
    Ihr T -Shirt war hochgerutscht, und ich sah die nackte Hüfte. Die glatte rosafarbene Haut, den sanften Schwung der Hüfte, den berauschenden Umriss der Brüste und den Hintern, der sich durch die Kleidung hindurch abzeichnete.
    Ich hätte sie mühelos töten können – zuschlagen, bevor ihr dämmerte, dass ich ihr Geheimnis aufgedeckt hatte. Mit genügend Zeit und den richtigen Werkzeugen hätte ich alle Geheimnisse aus ihr herausbekommen. Ich hätte sie aufreißen und den Dämon in ihr finden können. Dann hätte ich es endlich verstanden.
    Mir zitterten die Hände in genau dem Rhythmus, in dem die Schluchzer Marcis Körper erschütterten.
    Steh auf und geh.
    Ich rutschte auf dem Stuhl herum, bis ich noch etwas mehr von ihrem nackten Rücken sah, doch auf einmal, ohne mich bewusst entschieden zu haben, rückte ich wieder von ihr weg und wandte den Blick ab. Die Regel, Mädchen nicht anzustarren. Ich blickte schwer atmend zur Wand und konzentrierte mich auf die Heftzwecken und die Falten eines alten Posters.
    Ich hätte nicht hier sein dürfen. Ich wurde paranoid und sah überall Dämonen, ich war eine Bedrohung für Marci und auch für mich selbst. Ich musste gehen.
    Unvermittelt stand ich auf. »Ich muss gehen.«
    Marci wandte sich um. »Bitte, geh nicht, John! Es tut mir leid, ich bin so durcheinander …«
    »Nein, ich muss gehen.« Ich tat einen Schritt auf die Tür zu, gleichzeitig richtete Marci sich auf, und das T -Shirt glitt herab. Mein Wunsch zu bleiben wurde stärker, es war ein Begehren wie ein Vulkanausbruch im Bauch. Mühsam riss ich mich von ihrem Anblick los. Alles, was ich an diesem Abend gedacht hatte, war dumm und paranoid. Ich verlor die Kontrolle. »Ich muss gehen.«
    »Warum?«
    Sie sagte es mit einem seltsamen Unterton, doch ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um es zu verstehen. War sie traurig? Verwirrt? Reumütig? Erfreut? Zornig? Ich zerstörte unsere Freundschaft und ließ sie in der Stunde der Not im Stich.
    Ich rettete ihr das Leben.
    »Es tut mir leid.« Die Worte kamen grob und automatenhaft aus mir heraus. Gern hätte ich mir einen Vorwand überlegt, damit ich nicht ganz so grausam und unmenschlich

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