Wells, ich will dich nicht töten
einmischst. Es geht um dein Geld, deine Erwartungen, deine Einmischungen. Es geht immer nur um dich.«
Sie versetzte mir eine Ohrfeige. Erschrocken starrte ich sie an.
»Sag das nie wieder.«
Meine Wange wurde heiß und brannte. Sie hatte mich noch nie geschlagen. Dad hatte es natürlich getan, aber er hatte sowieso alle geschlagen. Deshalb hatten sie sich ja scheiden lassen. Mom war anders – innerlich hart wie Stahl, doch es hatte nie körperliche Übergriffe gegeben, und sie war nie gewalttätig geworden. Ausdruckslos starrte ich sie an, und sie hielt mit geweiteten Augen und zusammengekniffenen Lippen meinem Blick stand. Sie war entschlossen und energisch, aber ebenso bestürzt wie ich.
Meine Wange pochte, doch ich hob die Hand nicht, um sie zu reiben, sondern erwiderte nur ihren Blick. So saßen wir eine halbe Ewigkeit, bis sie leise das Wort ergriff.
»In deiner Kindheit hatte ich jeden Abend Albträume, wie du ganz allein und klein von deiner Mama getrennt würdest. In jeder Nacht habe ich mindestens dreimal nach dir gesehen, manchmal noch öfter, wenn du in deine Decken eingekuschelt im Bett lagst. Ein Fünkchen Wärme in dem kalten leeren Raum. In manchen Nächten bist du in unser Bett gekommen, irgendwann hast du damit aufgehört und mich nur in dein Zimmer gerufen, dann hast du auch damit aufgehört und … überhaupt nichts mehr getan. Du brauchtest mich nicht mehr, du hast nicht mehr mit mir gesprochen, und eines Tages wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr deine Mami war.« Ihre Augen bewegten sich fast unmerklich. Sie betrachtete nicht mehr mich, sondern irgendeinen fernen Punkt weit hinter mir. »Ich war mal April oder die liebe Mom. Heute weiß ich nicht mehr, wer ich bin.«
Ruhig stand ich auf und brachte mein Geschirr zur Spüle. Das restliche Essen kippte ich in den Mülleimer. Dann blieb ich einen Moment lang stehen und starrte die Wand an.
»Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe«, flüsterte sie.
Ich ging zur Anrichte neben der Spüle, wo der Messerblock stand, und zog ein langes Küchenmesser heraus. Mom hinter mir keuchte auf. Es war das Messer, mit dem ich sie vor fast einem Jahr bedroht hatte. Ich wandte mich um, kehrte zu ihr zurück und legte es vor ihr auf den Tisch.
»Erinnere dich an dies hier, wenn du das nächste Mal an mir zweifelst«, sagte ich. »Von uns beiden bin ich derjenige, der sich zurückgehalten hat, als ein Streit gewalttätig wurde.«
Dann ging ich hinaus und fuhr weg.
»Hallo, John.« Marcis Mom öffnete mir die Vordertür. »Alles klar?«
»Alles klar«, antwortete ich. »Warum?«
»Dein Lehrer ist tot.« Sie zog mich nach drinnen. »Du musst doch ganz durcheinander sein.«
»Er war ein Pädophiler«, sagte ich. »Er hat Ihre Tochter lüstern angesehen und bekommen, was er verdient hat.«
»Er hat es verdient, gefeuert zu werden, und noch einiges mehr«, wies sie mich mit harter Stimme zurecht. »Aber den Tod hat er nicht verdient.«
Wirklich nicht? Pornografie führte zur Gewalt – so war es jedenfalls bei Ted Bundy gewesen. Ein Pädophiler wie Mr Coleman in einer Position, in der er Macht über Minderjährige hatte – so etwas war die Einladung, ein Verbrechen zu begehen. Er hatte mehrere Jahre lang an der Schule gearbeitet. Vermutlich würden sich noch mehr ehemalige und jetzige Schüler melden und von unsittlichen Angeboten, Belästigung und vielleicht sogar von Vergewaltigungen berichten. Auch wenn er es noch nicht getan hatte, irgendwann hätte er es getan. Was war so schlecht daran, diesem Treiben für immer einen Riegel vorzuschieben?
Ob es logisch war oder nicht, auf diese Auseinandersetzung wollte ich mich im Moment nicht einlassen. Vielmehr wollte ich die neuen Hinweise analysieren, und dazu brauchte ich Marci.
»Sie haben recht«, log ich. »Niemand verdient so etwas. Ist Marci da?«
»Sie ist oben in ihrem Zimmer«, erwiderte Mrs Jensen. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Vielleicht kannst du sie aufmuntern.«
Aufmuntern? Ich folgte Mrs Jensen die Treppe hinauf. Ihre Mom mochte sich über Colemans Tod aufregen, aber Marci konnte doch froh sein. Sie hatte ihn gehasst.
Wir blieben vor einer geschlossenen schmalen Tür stehen. Mrs Jensen klopfte vorsichtig an.
»Marci, Liebes?«
»Ich möchte gern allein sein«, antwortete Marci zaghaft und mit brüchiger Stimme. Sie hatte geweint.
Also war auch sie betroffen. Menschen, die Empathie besitzen, sind so seltsam.
»John ist da. Willst du nicht mit ihm reden?«
Es
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