Wells, ich will dich nicht töten
gab eine Pause, dann kramte Marci hinter der Tür mit irgendetwas herum.
»Klar«, sagte sie schließlich. Sie öffnete die Tür und rieb sich mit dem Handrücken die Augen trocken. Ihre Kleidung war zerknittert, die Augen waren gerötet und verheult. Als sie vor mir stand, lachte sie unsicher. »Tut mir leid, ich sehe schrecklich aus.«
»Du siehst prima aus«, widersprach ich.
»Komm rein.« Sie machte mir Platz und winkte. »Entschuldige das Chaos hier.«
»Lasst die Tür offen«, sagte Mrs Jensen streng und ging wieder hinunter.
Ich betrat Marcis Zimmer, in dem wirklich ein großes Durcheinander herrschte, und setzte mich auf den Schreibtischstuhl. Marci hockte sich im Schneidersitz auf das hastig gemachte Bett und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar.
»Im Ernst«, sagte ich, »du siehst gut aus.«
»Ach, lass doch diesen Mist.« Sie hörte auf, an den Haaren herumzunesteln, und legte sich, immer noch mit überkreuzten Beinen, auf den Rücken. »So was Schlimmes ist mir noch nie passiert.«
»Ja.« Ich sah mich im Zimmer um. An den Wänden hingen Poster, Fotos und verschiedener Krimskrams, einige Sachen waren neu, einige aber auch mehrere Jahre alt. Der Raum sah nicht richtig bewohnt aus, sondern eher so, als sei er einem Angriff zum Opfer gefallen. »Deine Mom hat etwas Ähnliches gesagt, aber ich hätte nicht gedacht, dass du es so schwernimmst.«
Sie lachte trocken. »Du hast nicht erwartet, dass ich es so schwernehme? Ich habe doch dafür gesorgt, dass er stirbt!«
»Was?«
»Ohne mich wäre das nie passiert. Ich habe ihn gemeldet, ich habe ihn als Zielperson aufgestellt. Im Grunde hätte ich auch gleich selbst schießen können.«
»Das ist doch lächerlich«, widersprach ich.
Sie weinte wieder. »Du weißt nicht, wie es sich anfühlt, für so etwas verantwortlich zu sein.«
O doch, das wusste ich genau. Ich wusste nur nicht, wie es sich anfühlte, wenn es einem danach mies ging.
»Hör mal«, sagte ich, »wenn du dafür verantwortlich wärst, dann hättest du der Welt einen Gefallen getan. Aber du bist nicht verantwortlich, weil dies kein Mord als Strafe war. Colemans Bloßstellung führte nicht direkt zu seinem Tod. Nichts deutet darauf hin, dass der Handlanger Menschen bestraft. Die beiden ersten Opfer waren völlig unschuldig.«
»Wie sollte dieser Mord keine Bestrafung sein?«, fragte sie. »Hast du denn das mit den Augen nicht gehört?«
»Was ist mit den Augen?« Ich hatte tatsächlich keine Ahnung.
»O verdammt, es wurde noch nicht veröffentlicht.«
»Hat dir dein Dad etwas erzählt?« Ich beugte mich vor. »Was denn?« Als sie die Augen erwähnt hatte, war irgendwo in mir ein Alarm losgegangen. Ich forschte in meinen Erinnerungen, bekam aber nichts zu fassen.
»Nicht heute Abend, John. Ich packe das nicht mehr.«
»Aber es ist wichtig! Wenn sich die Art und Weise geändert hat, wie der Handlanger tötet, dann ist das doch ein neuer Hinweis oder eine Eskalation. Wenn du etwas weißt, dann musst du es mir sagen.«
»Hast du wirklich so ein dickes Fell?« Mit tränennassem Gesicht richtete Marci sich wieder auf. »Gestern Abend ist jemand gestorben, und es war meine Schuld!«
»Natürlich macht es mir etwas aus«, antwortete ich. »Sonst würde ich doch nicht versuchen, sie aufzuhalten.«
»Ich rede nicht von ihr.« Flehend blickte sie mich an. »Ich rede von mir.«
Dann schluchzte sie, legte sich auf die Seite und krümmte sich zusammen.
Mir war klar, dass ich etwas sagen musste, aber was? Ich war schon unsicher, mit der fröhlichen Marci zu reden, aber jetzt, da sie traurig war, fiel mir überhaupt nichts mehr ein.
Augen … Augäpfel … es lag mir auf der Zunge.
Charles Albright, der Augapfelkiller. Erschrocken fuhr ich auf, als es mir einfiel. Erst vor wenigen Tagen hatte ich ihn erwähnt, als ich mit Marci und ihrem Dad gesprochen hatte. Ich hatte den Diebstahl von Augäpfeln einem Mann gegenüber erwähnt, der ohnehin schon gute Gründe hatte, Mr Coleman zu hassen. Ein paar Tage später wurde der Lehrer ermordet, und die Augen waren zerstört oder gestohlen worden. Ein Zufall?
War etwa Officer Jensen der Handlanger?
Offensichtlich hatte nicht der Augapfelkiller selbst zugeschlagen. Charles Albright saß im Gefängnis und malte fröhlich Augen auf die Zellenwände. Aber vielleicht war es ein Hinweis oder eine Spur, womöglich auch eine Botschaft an mich: Ich habe den Mann getötet, über den ihr geredet habt, und zwar auf jene Weise, die du erwähnt
Weitere Kostenlose Bücher