Welt im Fels
von allen, denn heute hatten sie ihren Sohn in den Tempel geholt, um über ihn zu urteilen. Das Unheil mußte jetzt hereinbrechen. Die Götter hatten auf diesen Tag gewartet, obwohl sie die ganze Zeit wußten, daß ihr Sohn Chimal der Sohn von Chimal-popoca war, dem Mann aus Zaachila, der das Stammestabu verletzt hatte.
Der Schatten von den Felswänden verdunkelte schon ihr Haus, und sie hatte schon die Tortillas zwischen ihren Handflächen geformt und zum Backen auf den Cumal über dem Feuer gelegt, als sie die schleppenden Schritte hörte. Die Leute hatten den ganzen Tag ihr Haus sorgsam gemieden. Quiauh wandte sich nicht um. Es war gewiß jemand, der gekommen war, um ihr zu sagen, daß ihr Sohn tot war.
»Mutter«, flüsterte der Junge. Sie sah ihn an der weißen Hauswand stehen, mit einer Hand lehnte er sich dagegen, und als er sie wegnahm, blieb ein roter Fleck zurück.
»Leg dich hier hin!« sagte sie und eilte ins Haus um ein Petlatl. Dann breitete sie die Grasmatte vor der Tür aus, wo es noch hell war. Er lebte noch. Sie lebten beide noch, die Priester hatten ihn nur geschlagen! Sie stand da, bis er sich vornüber auf die Matte fallen ließ und sie sah, daß sie ihn nicht nur auf die Arme, sondern auch auf den Rücken geschlagen hatten. Er lag still da und starrte über das Tal hinaus, während sie Heilkräuter in Wasser tauchte und damit die blutigen Striemen betupfte.
»Kannst du deiner Mutter sagen, wie das gekommen ist?« fragte sie, während sie sein unbewegliches Profil betrachtete. Sie konnte seine Gedanken nicht erraten. Es war immer so gewesen, schon als er noch ein kleiner Junge war.
»Es war ein Irrtum.«
»Die Priester irren sich nicht.«
»Doch! Sie irrten sich. Ich kletterte die Felswand hoch …«
»Dann war es kein Irrtum, daß sie dich schlugen – es ist verboten, die Felswand zu besteigen.«
»Nein, Mutter«, sagte er geduldig, »es ist nicht verboten, die Felswand zu besteigen – es ist verboten, die Felswand zu besteigen, um das Tal zu verlassen, so lautet das Gesetz. Aber es ist erlaubt, bis zu drei Mannshöhen an den Felswänden hochzuklettern, um Vogeleier zu sammeln. Ich war nur zwei Mannshöhen geklettert und suchte Vogeleier. Das erlaubt das Gesetz.«
»Wenn das das Gesetz ist, warum schlugen sie dich?« Sie dachte mit gefurchter Stirn angestrengt nach.
»Sie hatten das Gesetz vergessen, und sie mußten es im Buch nachlesen, was lange dauerte – und dann merkten sie, daß ich recht hatte und sie im Unrecht waren.« Er lächelte, kalt. »Also schlugen sie mich, weil ich Priestern widersprach.«
»Und damit taten sie recht.« Sie erhob sich. »Du mußt es lernen, dich unterzuordnen. Du darfst Priestern nicht widersprechen.«
Fast sein ganzes Leben lang hatte Chimal das gehört, diese oder ähnliche Worte, und hatte längst gelernt, daß es am besten war, darauf nicht zu antworten. Ganz besonders, da er gelogen hatte. Er hatte versucht, die Felswand zu übersteigen; die Vogeleier waren nur eine passende Ausrede für den Fall, daß ihn jemand entdeckte.
»Bleib hier und iß!« sagte Quiauh und stellte zwei Tortillas vor ihn hin, trockene, flache Maiskuchen von beinahe einem halben Meter Durchmesser. »Ich werde Atolli machen, während du die ißt.«
Chimal streute Salz auf die Tortillas und riß ein Stück ab, kaute langsam daran und beobachtete durch die offene Haustür seine Mutter, die sich über die Herdsteine beugte und im Topf rührte.
Er richtete sich auf, um die Atolli zu essen, als seine Mutter sie ihm brachte. Mit einem Stück Tortilla löffelte er den dünnen Maisbrei. Er war nahrhaft und sättigend und mit Honig und scharfem Chilipfeffer gewürzt. Chimals Rücken wurde besser, auch seine Arme; es blutete nicht mehr, wo die Haut von den Stockschlägen aufgeplatzt war. Er blickte zu dem sich verdunkelnden Himmel hinauf. Über den Felswänden im Westen war der Himmel feuerrot, und davor segelten die Zopilotgeier, schwarze Silhouetten, die verschwanden und wieder auftauchten. Er beobachtete sie, bis das Licht am Himmel verblaßte. Das war die Stelle, wo er mit seiner Kletterei begonnen hatte; die Geier waren der Grund dafür gewesen.
Die Sterne standen schon scharf und funkelnd am klaren Himmel, während im Haus der gewohnte Arbeitslärm verstummte. Chimal hörte nur noch ein Rascheln, als seine Mutter ihr Petlatl auf dem Schlafplatz ausrollte. Dann rief sie ihm.
»Es ist Zeit zum Schlafen.«
»Ich werde eine Weile hier schlafen, die Luft kühlt meinen
Weitere Kostenlose Bücher