Welt im Fels
klammerte er sich am Fels fest. Dann war das Schwarze über ihn hinweg; ein großer Geier flatterte in die Dunkelheit hinaus. Chimal lachte laut. Das war nichts, wovor er sich zu fürchten brauchte. Er hatte die richtige Stelle erreicht und den Vogel aufgescheucht, der hier gesessen hatte. Er zog sich auf den Sims hinauf und richtete sich auf. Der Sims lag vor ihm, keine weiteren Geier waren zu sehen. Es gab hier sonst nichts von Interesse, bis auf eine schwarze Öffnung in der Felswand dahinter. Chimal ging darauf zu, aber er konnte in der Dunkelheit der Höhle nichts erkennen. Er blieb am Eingang stehen und konnte sich nicht dazu überwinden, weiter hineinzugehen. Der Mond würde bald aufgehen, vielleicht könnte er dann mehr sehen. Er entschloß sich zu warten.
Der Himmel wurde mit jedem Augenblick heller, und graues Licht kroch immer tiefer in die Höhle hinein. Als der Mond endlich voll hineinschien, fühlte Chimal sich betrogen. Es gab nichts zu sehen. Die Höhle war nichts weiter als eine Vertiefung in der Felswand, die nicht mehr als zwei Mannslängen hinter dem Eingang endete. Dort war nur Fels, und der Boden war anscheinend mit losen Steinbrocken bedeckt. Als Chimal den nächsten von ihnen mit dem Fuß anstieß, stellte er überrascht fest, daß es kein Stein war, sondern etwas Weiches. Er bückte sich, um den Gegenstand näher zu untersuchen. Seine Finger wie seine Nase sagten ihm, was es war:
Fleisch!
Erschrocken fuhr Chimal zurück und wischte sich seine Hände immer und immer wieder an den Steinen ab.
Fleisch! Und er hatte es tatsächlich angefaßt, ein Stück von einem halben Meter Länge und eine Handspanne dick. Nur von einem großen Lebewesen konnten so große Fleischstücke stammen.
Vom Menschen!
Es war ein Wunder, daß er nicht zu Tode stürzte, als er sich hastig an den Abstieg machte. Als er unten angekommen war, wußte er nicht, wie er es geschafft hatte. Das Entsetzen über das, was er gesehen hatte, ließ ihn schwindlig werden. Fleisch, Menschen, Opfer, die der Zopilotengott hier den Geiern zum Fraß vorgeworfen hatte. Er hatte es gesehen. Würde man sie demnächst mit seinem Leib füttern? Am ganzen Körper zitternd, rannte Chimal von der schrecklichen Felswand weg und fiel aufs Gesicht. Es verging eine lange Zeit, bis er sich aufraffte, um zum Dorf zurückzuwanken. Er schlich vorsichtig zwischen den braunen Häusern durch, deren Fenster ihn wie dunkle Augen anzustarren schienen, bis er zu Hause ankam. Sein Petlatl lag noch, wo er es verlassen hatte. Er zog die Matte hinter sich durch die Tür und breitete sie an dem immer noch warmen Herd aus. Als er die Decke über sich zog, fiel er sofort in Schlaf.
3.
Die Anzahl der Monate ist achtzehn, und die achtzehn Monate sind ein Jahr. Der dritte Monat heißt Tozoztontli, und das ist die Zeit, da der Mais gepflanzt wird und da wir beten und fasten, daß Regen kommt und im siebenten Monat der Mais reift. Dann, im achten Monat, werden Gebete gesprochen, um den Regen abzuhalten, der dem reifenden Mais verderblich ist …
Tlaloc, der Regengott, war sehr ungnädig. Dieses Jahr hörte er überhaupt nicht auf ihre Gebete. Die Sonne brannte aus einem wolkenlosen Himmel herab, und ein heißer Tag folgte dem andern. Weil das Wasser fehlte, waren die jungen Maisschößlinge viel unscheinbarer, als sie hätten sein sollen. Zwischen den kümmerlichen Maisreihen stampfte und jammerte fast die ganze Bevölkerung von Quilapa, während der Priester seine Gebete rief.
Chimal fiel es schwer zu weinen. Fast allen anderen rannen Tränen über die staubbedeckten Wangen, Tränen, die den Regengott rühren sollten, damit er seine Tränen so reichlich wie die ihren als Regen fallen lassen würde. Als Kind hatte Chimal nie an dieser Zeremonie teilgenommen, aber jetzt, da er über zwanzig und damit erwachsen war, teilte er Pflichten und Aufgaben der Erwachsenen. Er schlurfte über den harten Boden und dachte an den Hunger, der kommen würde. Aber das machte ihn zornig, statt traurig. Wenn er seine Augen rieb, schmerzten sie nur.
Natürlich weinten die Frauen am besten, heulten und rissen an ihren Zöpfen, bis sie sich auflösten und das Haar in langen gelben Strähnen um ihre Schultern hing. Wenn ihre Tränen versiegten, schlugen die Männer sie mit Strohbüscheln.
Jemand strich an Chimals Bein entlang, und eine warme und weiche Hüfte drückte sich an ihn. Er schritt weiter die Reihe hinunter, aber einen Augenblick später spürte er den Druck wieder.
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