Welt im Fels
Priester, und Totenstille senkte sich über die Menge, als dieser gefürchtete Name ausgesprochen wurde. »Sprich jetzt, Popoca!« befahl er dem Jungen. »Was hast du gesehen?« Während er das sagte, drückte der Priester die Pfeilspitze in die grauglänzende Masse, die durch die Öffnung sichtbar war. Der Junge stöhnte und bewegte die Lippen.
»Kaktus … auf dem oberen Feld … pflückte Früchte … es war spät … noch nicht fertig … mußte vor Dunkelheit zurück sein … Ich drehte mich um und sah …«
»Komm hervor, Tezcatlipoca, hier ist der Weg!« rief der Oberpriester laut und stieß sein Messer tief in die Wunde. Da schrie der Junge: »SAH DAS LICHT DER GÖTTER AUF MICH ZUKOMMEN, ALS DIE SONNE UNTERGING …« Er brach ab, bäumte sich in seinen Fesseln auf, fiel zurück und blieb reglos liegen.
»Tezcatlipoca ist fort«, sagte Citlallatonac, während er seine blutigen Instrumente in die Schale warf, »und der Junge ist frei.«
Der Junge ist tot, dachte Chimal und wandte sich zum Gehen.
4.
Es wurde kühler, als der Abend sich näherte, und die Sonne brannte nicht mehr so heiß auf Chimals Rücken. Seit er den Tempel verlassen hatte, hockte er hier im weißen Sand des Flußufers und starrte in das schmale, träge dahinfließende Rinnsal. Es war ein schrecklicher Tag gewesen, und Popocas Opfertod hatte seine Gedanken tief aufgewühlt. Was hatte der Junge gesehen? Könnte er es auch sehen? Würde er sterben, wenn er es sähe?
Als er aufstand, versagten ihm fast die Beine. Er hatte zu lange auf den Fersen gehockt, und statt den Fluß zu überspringen, watete er durch. Er hatte unter Wasser sterben wollen, war aber nicht gestorben, was machte es also aus, wenn er jetzt starb? Das Leben hier war unerträglich. Der Gedanke an die gleichförmige Endlosigkeit der vor ihm liegenden Tage erschien ihm viel schlimmer zu sein als der Tod. Der Junge hatte etwas gesehen, die Götter waren in ihn gefahren, weil er es gesehen hatte, und die Priester hatten ihn getötet, weil er es gesehen hatte.
Er hielt sich nahe am Sumpf im Norden des Tales, um ungesehen zu bleiben, und umrundete die Mais- und Magueyfelder, die Zaachila umgaben. Dies war unbebautes Land, nur Kakteen, Mesquite-Gestrüpp und Sand, und niemand sah ihn. Die purpurnen Schatten verlängerten sich, und er beeilte sich, um die östliche Felswand hinter Zaachila zu erreichen, bevor die Sonne unterging. Was hatte der Junge gesehen?
Es gab nur eine Fläche mit Früchte tragenden Kakteen, auf die die Beschreibung paßte, die am oberen Ende eines langen Geröllhangs. Chimal kannte den Weg dorthin. Als er den Hang erreichte, verschwand gerade die Sonne hinter den fernen Berggipfeln. Er kroch auf allen vieren hinauf zu den Kakteen und stieg dann auf einen großen Felsblock. Von seinem Aussichtspunkt überblickte er das ganze Tal, das Dorf Zaachila zu seinen Füßen, dann den dunklen Einschnitt des Flußbetts und dahinter sein eigenes Dorf. Der Wasserfall am südlichen Ende war hinter einer vorspringenden Felswand verborgen, aber der Sumpf und die riesigen Steinblöcke, die das Tal im Norden abriegelten, waren deutlich zu sehen, obwohl es rasch dunkelte, während die Sonne tiefer sank. Während er sie beobachtete, verschwand sie hinter den Bergen. Das war alles, und er wollte schon von seinem Aussichtspunkt herunterklettern.
Da traf ihn ein heller Lichtstrahl.
Ein spinnwebdünner goldener Faden, der am Himmel entlangschoß von der Untergangsstelle der Sonne bis in den Zenit, leuchtend wie Lichtreflexe auf einer Wasseroberfläche. Was konnte es gewesen sein?
Plötzlich durchfuhr ihn ein Schreck, als ihm bewußt wurde, wo er war – und wie spät es war. Die ersten Sterne erschienen über ihm, und er war weit vom Dorf und seiner Seite des Flusses entfernt.
Coatlicue!
Ohne noch an etwas anderes zu denken, sprang er von dem Felsblock und fiel in den Sand, raffte sich auf und rannte wie ein gehetztes Tier.
Er hielt erst an, als eine massive Mauer vor ihm auftauchte. Er sackte an der Wand des ersten Hauses zusammen und klammerte sich keuchend an die groben ungebrannten Lehmziegel. Er fühlte sich in Sicherheit. Hierher würde ihm Coatlicue nicht folgen.
Als er wieder Atem geschöpft hatte, stand er auf und schlich nach Hause. Seine Mutter wendete Tortillas auf dem Cumal und blickte auf, als er hereinkam.
»Es ist sehr spät.«
»Ich war in einem anderen Haus.«
Er setzte sich hin und griff nach der Wasserflasche, überlegte es sich dann aber
Weitere Kostenlose Bücher