Welten - Roman
gekommen wäre, wenn ich es nicht getan hätte. Wahrscheinlich hätte sich alles genau so entwickelt, also ist es egal, dass ich es getan habe. Vielleicht sind auf diese Weise ein paar Leute noch
am Leben, die sonst tot wären, aber wer kann das schon sagen? Wir haben keine Zeitmaschine.«
Was hätte seiner Meinung nach anders kommen können?
»Wir hätten heute vielleicht keine Gesellschaft, in der die Menschen in Angst und Schrecken vor Leuten wie Ihnen leben.« Er zuckte die Achseln. »Aber wie gesagt, wahrscheinlich hätte sich alles ganz genau so ergeben. Wenn ich anders gehandelt hätte, hätte das kaum was bewirkt, da mache ich mir nichts vor.«
Ich erklärte, dass ihn nach meiner Auffassung keine Schuld traf am aktuellen Zustand unserer Gesellschaft. Schuld waren die Menschen, die die Gesellschaft bedrohten: Terroristen, Radikale, Linke, Liberale und andere Verräter - all jene, die durch direktes Handeln oder durch Propaganda, mit der sie die leichtgläubigen Massen für ihre schmutzigen Zwecke einspannen, den Staat zum Einsturz bringen wollen.
»Klar, dass Sie so was glauben.« Jay klang erschöpft.
Ich drückte ihm mein Bedauern darüber aus, dass er im Gefängnis gelandet war. Meiner Meinung nach hätte man ihn nie vor ein Gericht stellen und sogar noch schuldig sprechen dürfen. Man hätte ihm einen Orden verleihen müssen, statt ihn ins Gefängnis zu schicken. Das hatte wahrscheinlich sein Leben ruiniert, vor allem weil man ihn dort so lange festgehalten hatte.
»Geht das schon wieder los«, antwortete er mit müder Stimme. »Sie haben überhaupt nichts begriffen.«
Wenn er das glaubte, dann war es vielleicht das Beste, mir seine Sicht der Dinge zu erklären.
»Ich habe selbst darauf bestanden, dass Anklage gegen mich erhoben wird. Ich habe es verlangt. Ich wollte keinen
Verteidiger, weil ich mich schuldig bekennen wollte, aber sie haben mich nicht gelassen. Meine Familie wurde bedroht. Also musste ich auf Unschuld plädieren. Aber dann habe ich mich nicht verteidigt und wurde verurteilt. Zu zwei Jahren, aber das war nicht korrekt. Jeder andere hätte mindestens neun Jahre bekommen, also habe ich eben dafür gesorgt, dass ich so lange im Gefängnis blieb. Es ist nicht schwer, sich zusätzliche Haftzeiten einzuhandeln.« Jay lächelte humorlos. »Als ich wieder rauskam, habe ich allen Leuten, die mich zum Helden stilisieren oder mir einen Orden verleihen wollten, gesagt, dass sie Idioten sind und sich verpissen sollen. Als mir dann einer zu sehr damit auf die Pelle rückte, dass ich ein Held für ihn bin und er sich darum kümmern kann, dass ich einen Orden kriege, hab ich zugeschlagen. Dummerweise war es der Sohn des Justizministers, wie schon erwähnt. Und deshalb bin ich hier.«
Trotzdem hatte ich es noch nicht begriffen. Warum wollte er vor Gericht gestellt und schuldig gesprochen werden? Warum wollte er sich neun Jahre einsperren lassen?
Nun wurde Jay doch ein wenig lebhafter und hob den Kopf. »Weil ich an Gerechtigkeit glaube.« Er spuckte mir das Wort entgegen. »Ich glaube an das Gesetz.« Auch dieses Wort. »Ich habe gegen das Gesetz verstoßen, und deshalb musste ich bestraft werden. Es war falsch, dass man mich ungeschoren davonkommen lassen wollte. Und noch falscher, dass man mir einen Orden dafür verleihen wollte.«
Aber er hatte doch nichts Falsches getan. Er hatte das Leben Unschuldiger gerettet und zu einem Sieg gegen jene beigetragen, die die Gesellschaft zerstören wollten.
»Trotzdem war es gegen das Gesetz! «, rief er erregt. »Kapieren Sie das nicht? Wenn das Gesetz etwas zu bedeuten
hat, dann kann ich nicht einfach darüberstehen, bloß weil ich Polizist bin und mit meinem Verstoß ein paar Menschenleben gerettet habe. Darauf kommt es gar nicht an. Folter war illegal. Ich hatte das Gesetz gebrochen. Verstehen Sie denn nicht?« Er rüttelte mit dem Stuhl, dass die Ketten an seinen Handschellen klirrten. »Gesetzesverstöße zu ahnden ist bei Polizisten noch wichtiger als bei normalen Verbrechern, weil sonst niemand mehr der Polizei vertraut.«
Ich wies ihn darauf hin, dass die eindringliche Befragung im Gegensatz zu damals inzwischen völlig legal war, auch wenn man das bedauern mochte.
»›Eindringliche Befragung‹ - damit meinen Sie wohl Folter.«
Wenn ihm dieser Begriff lieber war. Aber warum hatte er seine Meinung nicht gegenüber all den Zeitungen geäußert, die mit ihm reden wollten? Oder bei seinem Prozess, wo er ja einen Anspruch auf rechtliches Gehör
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