Welten - Roman
hatte?
Jay warf mir einen geringschätzigen Blick zu. »Glauben Sie wirklich, die Zeitungen drucken, was ihnen die Leute erzählen? Ich meine, wenn es nicht dem entspricht, was die Allgemeinheit nach Auffassung der Eigentümer und des Staates hören soll?« Er schüttelte den Kopf. »Beim Prozess war es genauso.«
Trotzdem fand ich, dass er zu streng mit sich war. Er hatte richtig gehandelt.
Wieder wirkte er kraftlos und niedergeschlagen, obwohl wir bisher, wie ich betonen möchte, noch keinerlei physischen Druck auf ihn ausgeübt hatten. »Das Schlimme ist, dass ich trotz meines Wissens in so einer Situation vielleicht wieder genauso handeln würde. Ich würde diesem Scheißkerl von einem Christen die Nägel rausreißen, ihn
zum Reden bringen, um rauszufinden, wo die Bombe ist, und hoffen, dass die Bullen noch rechtzeitig kommen.« Trotz oder sogar ein Flehen lag in seinen Augen. »Aber ich würde auch verlangen, dass man mich anklagt und verurteilt.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Geht das nicht in Ihren Kopf? Einen Staat, in dem Folter legal ist, darf es nicht geben. Am Anfang heißt es, nur für die ernsten Fälle, doch dabei bleibt es nie. Folter muss immer illegal sein, für jeden. Vielleicht kann man sie dadurch nicht aufhalten. Gesetze gegen Mord verhindern auch nicht alle Morde. Aber man sorgt dafür, dass die Leute gar nicht erst daran denken, außer in einer verzweifelten Notsituation. Und der Folterer muss zur Verantwortung gezogen werden. Voll. Wenn es diese Abschreckung nicht gibt, fangen alle damit an.« Er hob den Kopf, um sich umzuschauen, als wollte er nicht nur das Zimmer erkunden, sondern das ganze Gebäude oder sogar noch mehr. »Oder es endet so.« Er sah mich an. »Mit Ihnen. Wer Sie auch sind.«
Ich überlegte. Anscheinend war der Mann im Gefängnis gebrochen worden, doch auch davor war er wohl schon ein Idealist gewesen. Jedenfalls klang er so. Fast wie ein Fanatiker. Dennoch hätte ich ihn einfach freigelassen, wenn es nach mir gegangen wäre. Aber es ging nicht nach mir. Zum einen zeigten sich höchste Kreise interessiert an dem Fall, zum anderen konnte der Vorwurf der Unterstützung terroristischer Gruppen nicht einfach ignoriert werden. Dem Gesetz musste Genüge getan werden, zumindest in diesem Punkt hatte er Recht. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn einem jüngeren Kollegen zu überlassen, der vielleicht nicht von ihm gehört hatte, entschied mich dann aber doch dafür, die Befragung selbst durchzuführen, mit dem Vorsatz, ihn angesichts der unglückseligen Umstände,
die ihn hierhergeführt hatten, möglichst schonend zu behandeln.
Entsprechend wandten wir die Erstickungsmethode mit Klebeband an. Zunächst gestand Jay nichts: keine Mitgliedschaft oder Unterstützung einer geheimen oder illegalen Organisation, keine Sympathie für sie und auch keine offene Kritik am Staat. Erst als der ausgeübte Druck auf ein ungefähr durchschnittliches Maß gesteigert wurde, ließ er die üblichen und zu erwartenden Zeichen von Belastung erkennen und teilte uns mit, alles zugeben zu wollen, natürlich. Genau das hatte er gemeint, behauptete er. Ab einem gewissen Punkt gaben die Leute alles zu. Die einzige Wahrheit, die die Folter zutage förderte, war, dass die Leute alles gestanden, nur damit die Folter aufhörte, auch wenn sie wussten, dass diese Geständnisse für sie oder andere verhängnisvoll sein konnten. Der ganze Vorgang war sinnlos, grausam und unnütz, machte er geltend. Ein Staat, der Folter erlaubte oder duldete, verlor einen Teil seiner Seele. Dann bat er mich persönlich aufzuhören und bekräftigte seine Ankündigung, alles gestehen zu wollen, was man von ihm verlangte, und jedes Dokument zu unterschreiben, das man ihm vorlegte. Ich verzichtete auf den Hinweis, dass die bei ihm angewandte Methode aus meiner Sicht keine echte Folter darstellte, weil sie keine Schmerzen oder körperlichen Schäden hervorrief, sondern lediglich starkes Unwohlsein und innere Not.
Dennoch beendete ich das Verhör an dieser Stelle mit einiger Erleichterung, wie ich gerne einräumen will, bevor er ein handfestes Geständnis ablegen konnte, dem wir hätten nachgehen müssen.
Schon am folgenden Tag wurde Jay auf freien Fuß gesetzt. Ich legte einen Bericht vor, der durchblicken ließ, dass
wir ihn deutlich härter angefasst hatten als in Wirklichkeit geschehen und unsere Fähigkeiten und Einrichtungen weniger zur Wahrheitsfindung als zur Bestrafung eingesetzt hatten. Dies tat ich in der Annahme, dass
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