Welten - Roman
Kiesstreifen vor dem hohen Stadthaus und steuerte auf den Boulevard Haussmann zu, als sich die verschnörkelten schwarzen Tore geräuschlos schlossen.
ZWEI
PATIENT 8262
Es ist schon erstaunlich, was man mit fest geschlossenen Augen alles wahrnimmt. Zum Beispiel kann ich erkennen, welche Jahreszeit es ist, was für eine Art von Tag es ist, welche Pfleger und Wärter Dienst haben, welche anderen Patienten mein Zimmer besucht haben und ob jemand gestorben ist.
Nichts davon ist besonders schwierig oder gar in irgendeiner Weise übernatürlich. Man muss nur die Ohren offenhalten und mit den Sinnen auf die Alltagsrealität eingestimmt bleiben. Auch ein gutes Gedächtnis für frühere Erlebnisse hilft, ebenso wie eine intakte Fantasie. Die Fantasie braucht man jedoch nicht etwa, um sich Dinge auszudenken - das wäre falsch -, sondern um plausible Szenarien für das zu finden, was die Sinne entdecken; Theorien, die die Vorgänge erklären könnten.
Manchmal verbringe ich ganze Tage mit geschlossenen Augen. Ich stelle mich schlafend - tatsächlich schlafe ich dann mehr als sonst - und gestatte es meinen anderen Sinnen, meine Umgebung zu malen. Ich höre Wind und Regen am Fenster und Vogelgesang; der schwache Zug und die klar definierten Geräusche von draußen beweisen mir, dass das Fenster einen Spalt offen steht, auch wenn ich das Knarren und Scharren beim Öffnen verpasst habe, und an den Aromen und dem Gefühl der Luft erkenne ich sofort, ob es ein Sommertag oder nur ein ungewöhnlich warmes Zwischenspiel im Frühling oder Herbst ist. Ich bemerke die unverwechselbaren Körperausdünstungen
und Parfüms der Schwestern und Ärzte, die mich versorgen, und weiß daher immer, wer anwesend ist, selbst ohne ihre Stimmen zu hören, obwohl mir natürlich auch diese vertraut sind.
Wenn sich gelegentlich andere Patienten in mein Zimmer verirren, kann ich das aus dem medizinischen Anstaltsgeruch schließen. Ich treffe kaum mit ihnen zusammen und kann daher nicht auf verlässliche Daten über jeden Einzelnen zurückgreifen. Nur einige von ihnen stechen durch besondere Düfte oder Handlungen hervor. Ein Mann riecht nach einem besonderen Gesichtswasser, eine alte Dame trägt einen Veilchenhauch mit sich, und eine andere streicht mir immer mit den Fingern durchs Haar (wenn so etwas geschieht, kann ich durch nicht ganz geschlossene Augenlider spähen, um die betreffende Person zu erkennen). Ein kleiner, hagerer Mann pfeift praktisch die ganze Zeit ziellos vor sich hin, während ein anderer, etwas pummeliger Kerl nie vorbeischaut, ohne mit den Fingernägeln zerstreut auf den Metallrahmen am Fuß meines Betts zu trommeln.
Auch der Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresrhythmus der Klinik lässt sich ohne Zuhilfenahme der Augen bestimmen, und natürlich hat der Ort nachts eine völlig andere Ausstrahlung - vor allem ist es viel stiller. Untertags werden regelmäßig Mahlzeiten serviert und Medikamente verteilt (es gibt zwei Arzneiwagen, von denen einer ein quietschendes Rad hat), die Ärzte machen ihre verschiedenen Runden nach einem bestimmten Zeitplan, und auch das Reinigungspersonal versieht seinen Dienst nach einem komplizierten Turnus, der alles abdeckt vom täglichen Abstauben und Wischen bis hin zum Frühjahrsputz.
Also entgeht mir kaum etwas, während ich hier so liege,
auch wenn mir der Gebrauch des unmittelbar erhellendsten meiner Sinne versagt ist.
Dabei sehe ich sehr gut. Das ist alles nur ein Spiel, mit dem ich mir in meinem selbst auferlegten Exil die Zeit vertreibe, während ich darauf warte, wieder ins Geschehen eingreifen zu können.
Denn es besteht kein Zweifel: Eines Tages werde ich zurückkehren.
DER WELTENWECHSLER
Einmal beobachtete ich, wie sie ihre Hand über einer brennenden Kerze bewegte und sie mit den flatternd gespreizten Fingern fast zum Erlöschen brachte, ohne sich zu verletzen. Die gelbe Flamme neigte sich hin und her, flackerte und schickte rußige Rauchkringel zur dunklen Decke des Zimmers empor, in dem wir saßen, während sie langsam die Hand durch den gazeartigen Feuertropfen schob.
Sie sagte: »Nein, ich sehe Bewusstsein als eine Frage der Konzentration. Wie eine Lupe, die Lichtstrahlen auf einen Punkt bündelt, bis er sich entzündet. Die Flamme ist das Bewusstsein. Erst aus der Bündelung der Realität entsteht Selbsterkenntnis.« Sie blickte zu mir auf. »Verstehst du?«
Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war. Wir hatten Drogen genommen, die immer noch wirkten. Und mir war klar, dass
Weitere Kostenlose Bücher