Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Welten - Roman

Titel: Welten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
man unter solchen Umständen blanken Unsinn reden und ihn für höchst tiefgründig halten konnte. Doch zugleich hatte ich das Gefühl, dass diesmal alles ganz anders war.

    »Es gibt keine Intelligenz ohne Kontext.« Sie betrachtete ihre Hand, die durch die Flamme strich. »So wie eine Lupe um ihren Brennpunkt praktisch einen Schatten wirft - die erforderliche Einbuße, um anderswo die Bündelung zu erzeugen -, wird die Bedeutung aus der Umgebung gesaugt und in uns, in unserem Bewusstsein konzentriert.«
    Als ich ein Teenager war, gingen ich und ein paar Freunde einmal zu Fuß in die Stadt, um das Busgeld für Süßigkeiten, Burger und Spielautomaten zu sparen. Auf unserem Weg kamen wir durch eine ruhige Vorstadtstraße mit kleinen Gärten vor den Häusern. In einem Garten - eigentlich ein fast völlig zugepflasterter Hof mit ungleichen Töpfen, aus denen vertrocknete, staubige Pflanzen lugten - schlief ein dicker, grauhaariger Mann auf einem Liegestuhl. Wir blieben alle stehen und gafften. Wir schwitzten, und zwei von uns hatten die T-Shirts ausgezogen. Ihr Oberkörper war nackt wie der des Alten, doch im Gegensatz zu ihnen hatte dieser viele lockige graue Haare auf der Brust. Flüsternd verglich ihn einer mit einem gestrandeten Wal. Der Garten war derart winzig, dass der Liegestuhl nur hineinpasste, weil er schräg stand, und der Alte war uns so nah, dass wir das Kokosöl auf seiner Haut rochen und ihn fast berühren konnten.
    Wir schauten ihm beim Schlafen zu, und ein anderer meinte, dass er jetzt gern eine Wasserpistole gehabt hätte. Die Sonne brannte uns in den Rücken. Ich war der Größte, und mein Kopf warf einen Schatten auf die Füße des Mannes. Da fiel mir ein, dass ich eine Lupe dabeihatte. Ich hatte sie benutzt, um Löcher in die Prachtblumen meiner Stiefmutter zu brennen.
    »Jetzt passt mal auf.« Ich zog das Vergrößerungsglas heraus und hielt es so, dass es das Sonnenlicht auf seine Brust
bündelte. Dann bewegte ich den konzentrierten Strahl weiter durch den Wald aus grauen Haaren, um ihn schließlich auf die runzlige Brustwarze zu richten. Ein paar von den Jungs kicherten schon. Auch ich musste lachen, und der kleine, helle Lichtpunkt hüpfte ein wenig.Trotzdem reichte es schon: Der Alte bewegte sich ein wenig, und eine tiefe Falte grub sich in seine Stirn. Noch heute bilde ich mir ein, eine Andeutung von Rauch gesehen zu haben. Dann blinzelte er und brüllte, mit weit aufgerissenen Augen saß er plötzlich da, und seine Hand fuhr zu der angesengten Brustwarze. Die anderen rannten schon laut wiehernd davon, und ich sprintete ihnen hinterher. Wir hörten, wie er uns nachschrie. Mehrere Wochen lang machten wir einen weiten Bogen um diese Straße.
    Weder damals noch zu einem anderen Zeitpunkt erzählte ich ihr diese Geschichte.
    »Ich hätte gesagt«, antwortete ich stattdessen, »dass wir Bedeutung stiften … Dass wir sie sogar ausstrahlen. Wir ordnen den äußeren Dingen einen Kontext zu. Sie existieren auch ohne uns, glaube ich …«
    »Tun sie das?«, fragte sie.
    »… aber wir geben ihnen Namen und erkennen die Systeme und Prozesse, die sie miteinander verbinden. Wir kontextualisieren sie in ihrem Umfeld. Sie werden realer, weil wir wissen, was sie bedeuten und repräsentieren.«
    »Hmm.« Sie zuckte minimal die Achseln, abgelenkt vom Anblick ihrer durch die Flamme schneidenden Hand. »Vielleicht.« Es klang, als hätte sie das Interesse verloren. »Aber alles muss zur Reife kommen. Alles.« Langsam ließ sie den Kopf auf eine Seite sinken und verfolgte die Bewegung ihrer Hand mit einer Versunkenheit, die es mir erlaubte, sie genau zu mustern.

    Sie saß eingehüllt in ein verknittertes weißes Laken. Ihre rotbraunen Locken über den Schultern und auf dem schlanken Hals bildeten eine stille Aureole um ihren geneigten Kopf. Die dunkelbraunen Augen wirkten fast schwarz und spiegelten das flackernde Kerzenlicht wider wie ein Bild des Bewusstseins, über das sie spekuliert hatte. Sie schienen vollkommen reglos und ruhig. Ich bemerkte den winzigen Funken der Flamme in ihnen, bemerkte, wie er von der rastlosen Hand verdeckt wurde. Langsam, fast träge blinzelte sie.
    Mir fiel ein, dass Augen allein durch Bewegung sehen; wir können unseren Blick nur auf etwas richten und es konzentriert betrachten, weil Dutzende von winzigen unwillkürlichen Bewegungen durch unsere Augen zucken. Hält man etwas in unserem Gesichtsfeld absolut still, dann verschwindet es durch diese Starrheit.
    »Ich liebe dich«,

Weitere Kostenlose Bücher