Welten - Roman
ich sogar die Präsenz einzelner Personen erkennen. Das da muss Madame d’Ortolan sein, dies Professore Loscelles. Und im Zentrum von allem diese bizarre Gegenwart, diese seltsam unschuldige Bösartigkeit.
Einer der Hemmer scheint verschwunden. Ich erinnere mich an den rauchenden jungen Mann, den ich mit dem Taser niederstreckte und der dann in den kleinen Kanal an der Seite des Palasts stürzte. Er ist nicht mehr da. Und einige von den anderen setzen sich jetzt in Bewegung, sie verlassen den Palazzo und strömen in meine Richtung, zur Rialtobrücke. Andere drängen sich in ein Boot -
»Hey, verdammt! Passen Sie doch auf, wo Sie hinlatschen! So ein … ich meine, was soll das …«
»Scusi, Entschuldigung, Signore, bitte vielmals um Verzeihung«, sage ich zu dem Rucksacktouristen, den ich gerade umgerempelt habe, und helfe ihm auf, während um uns herum die Leute missbilligende Laute von sich geben.
»Also wirklich.«
»Scusi!« Schon gleite und tanze ich wieder durch die Menge, als wären die Menschen Markierungsstangen auf einer Slalomstrecke, einmal die eine Schulter nach vorn,
dann wieder die andere. Das Boot mit den sechs oder sieben Konzernagenten ist bereits auf dem Canal Grande unterwegs. Mindestens zehn weitere streben gerade zu Fuß über die Rialtobrücke. Ich selbst habe nur noch zwei Minuten bis dorthin.Wenn sie am Ende links abbiegen, kommen sie direkt an mir vorbei oder stoßen mit mir zusammen.
Mein Telefon klingelt. Es ist Ade. Auf dem Display blinkt ein Zeichen, das ich bisher nicht gesehen habe. Ich vermute, dass der Akku fast leer ist.
»Fred?«
»Hallo, Adrian.«
»Bin gerade an der Rialtobrücke gelandet, Kumpel. Gleich hinter der Vaporetto-Haltestelle oder so. Bin in einer Minute auf der Brücke.«
»Dann sehen wir uns gleich.«
Schwer atmend stelle ich mich in den Eingangsbereich eines Handschuhgeschäfts. Noch immer kann ich nicht in eine andere Person springen. Ich spüre, wie sich der Konzerntrupp aufteilt. Die meisten bleiben auf dem Weg zur Piazza San Marco, und drei kommen hierher. Ich wende mich der Calle zu und zwinge mich zur Ruhe, um mich nach außen abzuschotten und meine neuen Fähigkeiten so weit wie möglich herunterzufahren. Ein, zwei Minuten vergehen, auf der Straße wimmelt es von Leuten. Mein Herzschlag stockt, als ich jemanden erkenne, dann merke ich, dass er in die andere Richtung geht und dass es nur der Rucksacktourist ist, den ich vorhin umgestoßen habe. Blitzschnell lockere ich meinen Schutzschild, um die drei nächsten Konzernagenten zu orten. Alle drei sind dorthin unterwegs, wo ich gerade herkomme.
Ich trete auf die Straße und nach der nächsten Ecke stehe ich vor dem östlichen Ende der Rialtobrücke.
MADAME D’ORTOLAN
»Dunnerlittchen! Kopf hoch, Maaten! Da isser, unser Bursche! Hopphopp! Den Letzten beißen die Hunde! Jetzt wird mir aber blümerant, hab noch nich’ mal frühgestückt!«
»Was? Wo?« Madame d’Ortolan funkelte Mrs. Siankung an. »Gibt es was Neues?«
Mrs. Siankung schaute Bisquitine in die Augen und überließ es einem Betreuer, ihr mit einem Handtuch das Haar zu trocknen. »Ich glaube, ja«, antwortete sie. Sie befanden sich in einer Schlafzimmersuite des Palasts. Mr. Kleist und Professore Loscelles verfolgten das Ganze, ebenso die Betreuer und ein Späher in Schuluniform, der in ununterbrochener Verbindung stand zu den Einheiten, die zur Piazza San Marco strebten, und zu den kleineren Gruppen, die alle von Bisquitine erwähnten Örtlichkeiten überprüften. Bisquitine saß in einem weißen Frotteemantel, wie ihn auch der unglückliche junge Hemmer getragen hatte, auf dem Bett. »Ist das der böse Mann?«, fragte Mrs. Siankung mit sanfter Stimme.
Bisquitine nickte. »Verdammt und zugenäht, hab ich einen Kohldampf! Mir hängt der Magen in den Kniekehlen!«
Mrs. Siankung nahm die Hand des Mädchens und streichelte sie wie eine Katze. »Bald gibt’s was zu essen, Liebling. Jetzt gleich. Du ziehst dich an, und wir gehen zum Essen, ja? Wo ist der böse Mann?«
»Wie wär’s mit Würschten? Prächtiges Wort.Wo is’ eigentlich mein Muttchen? Hab sie schon seit Monaten nich’ mehr auf dem ollen Bauernhof gesichtet.«
»Der böse Mann, mein Liebes.«
»Er is’ hier, Mamele.« Bisquitine neigte sich nah zu Mrs. Siankung. »Besuchen wir jetzt den bösen Buben?« Ihre
Stimme klang tief, als würde sie mit einer Puppe sprechen. Sie schüttelte den Kopf. »Sollen wir? Sollen wir ihn jetzt besuchen? Den bösen Buben, sollen
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