Welten - Roman
Hier schmiege ich mich an meine Mutter, werde auf dem Knie meines Vaters geschaukelt, gehe zur Schule, verlasse das Elternhaus, komme an die UPT, finde Freunde, besuche Kurse, begegne Mrs. M, studiere, trinke, ficke, lege Prüfungen ab, mache Ferien zu Hause, schlafe zum ersten Mal mit Mrs. M, schlafe zum letzten Mal mit ihr, stehe betrunken auf einer Brüstung in Aspherje hoch über dem Großen Park auf der anderen Seite und frage mich, wohin sie verschwunden ist, warum sie mich verlassen hat und ob ich einfach springen soll, ehe ich mich nach hinten fallen lasse, zu erschöpft, um das Gleichgewicht zu halten oder auch nur zu weinen. Und dann lasse ich mich stattdessen zum multiversalen Ninja ausbilden.
Auch auf sozusagen metaphysischer Ebene kann ich meinen Werdegang nachvollziehen: wie und warum ich mich verändert habe und meine Fähigkeiten sich in den
letzten Monaten, Wochen, Tagen und sogar Stunden entwickelt haben. Ich war von jeher ein Naturtalent, lernte und begriff alles mühelos. Im Grunde war ich genetisch dazu veranlagt, das Wechseln zwischen den Welten und die damit verbundenen Fähigkeiten in neue Dimensionen zu führen - die richtige Motivation vorausgesetzt. Das heißt nicht, dass ich etwas Besonderes bin. Auf zahllosen Welten haben Milliarden von ähnlich begabten Menschen gelebt und sind gestorben, ohne dass die Expédience sie aufgespürt hat. Und ich verstehe, warum gerade die nervenaufreibenden, gefährlichen Aufträge von Madame d’O dazu führten, dass ich mich bewährte, dass ich widerstandsfähig wurde und dass ich Fertigkeiten in mir entdeckte und ausbildete, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte. Jetzt nehme ich diese Eigenschaften ganz deutlich wahr, und es ist durchaus denkbar, dass eine entsprechend eingestimmte Person - eine Mrs. Mulverhill, eine Madame d’Ortolan - sie oder zumindest das Potential dazu schon vor Jahren erkannt hat.
Als der Kellner, wohl absichtlich, an meinen Stuhl stößt, fahre ich aus meiner Versunkenheit hoch.
Das Licht hat sich verändert, die Reste der Pasta sind erkaltet. Ich schiele auf die Uhr. Viertel nach vier. Bei dem hier herrschenden Gedränge werde ich eine halbe Stunde zu spät zum Treffpunkt kommen. Vielleicht sollte ich die nächste Gasse nach rechts zum Canal Grande nehmen und mir ein Wassertaxi rufen. Aber am schlauesten wäre es wohl, einfach in den Körper von jemanden zu fahren, der schon an der Piazza San Marco ist. Ich schließe die Augen, um mich auf den Sprung vorzubereiten.
Und schaffe es nicht.
Was? Was ist los?
Ich versuche es erneut, wieder ohne Erfolg. Als würde wieder eine Hemmkraft auf mich einwirken. Ich sitze in diesem Körper fest. Rasch lege ich ein paar Geldscheine auf den Tisch und mache mich auf den Weg nach San Marco. Ich zücke das Telefon, um Adrian anzurufen, und horche in mich hinein, ob ich noch die Konzernleute wahrnehme oder ob auch das nicht mehr funktioniert. Mitten im Schritt und mitten im Drücken der Taste bremse ich taumelnd ab. Ja, ich spüre noch etwas, und was ich spüre, ist ein grundlegender Wandel, der sich im Palazzo Chirezzia vollzogen hat.
Unter die Gruppe der Konzernagenten in und um das Gebäude hat sich eine äußerst sonderbare und unangenehme Wesenheit gemischt, völlig andersartig und bestimmt nicht harmlos.
Mich beschleicht eine dumpfe Ahnung, dass es diese Wesenheit ist, die meine Kräfte hemmt, und dass sie mit raubtierhafter Faszination direkt in mein Innerstes starrt.
ADRIAN
»Ja, hallo?«
»Ade, ich bin’s, Fred. Sie wollen sich mit mir treffen.«
»Genau, Fred. Hören Sie, Mann, ich bin schon unterwegs. Aber war vielleicht ein bisschen optimistisch, dass ich es von dem alten Aeroporto in vierzig Minuten bis in die Innenstadt schaffe. Tut mir leid, aber Sie wissen ja, wie es ist. Sitze jetzt in so einem Wassertaxiding, und wir geben ordentlich Gas. Der Fahrer meint, in zehn, fünfzehn Minuten sind wir da. Ist das in Ordnung?«
»Ja. Adrian, bitte sagen Sie Ihrem Fahrer, er soll Sie zum Ponte di Rialto bringen. Wir treffen uns dort. Nicht auf der Piazza San Marco. Ich bin auch zu spät dran, aber wir sollten ungefähr gleichzeitig am Rialto sein.«
»Also nicht San Marco, sondern Rialto, verstanden. Das ist die Brücke, oder?«
»Richtig.«
»Alles klar, wir sehen uns dort.«
»Aber zeigen Sie die Kassette nicht rum.«
»Was? Ach so, okay.«
»Gehen Sie genau zur Mitte der Brücke, zum höchsten Punkt.«
»In Ordnung. Mitte, höchster Punkt.«
»Was haben Sie
Weitere Kostenlose Bücher