Welten - Roman
wir?«
»Ja«, antwortete Mrs. Siankung leise.
»Es reicht!«, rief Madame d’Ortolan fast gleichzeitig.
Bisquitine schien weder der einen noch der anderen Beachtung zu schenken. Plötzlich streckte sie den Finger in die Luft und verfehlte dabei nur knapp das Auge des Betreuers, der ihr die Haare abtrocknete. »Rialtowärts, meine Herzchen! Realtomobil! Horrido, da isser, der Ludewicht!«
Madame d’Ortolan wandte sich an Professore Loscelles. »Die Rialtobrücke. Das ist doch gleich in der Nähe, oder?«
»Fünf Minuten von hier«, antwortete er.
Mrs. Siankung tätschelte Bisquitine die Hand. »Jetzt ziehen wir dich erst mal an.«
»Mitnichten.« Madame d’Ortolan stand bereits. »Sie kann so bleiben. Es ist warm draußen.« Mürrisch blickte sie in die Runde. Nur Professore Loscelles zeigte sein gewohnt respektables Äußeres. »Lächerlicher als jetzt können wir uns sowieso nicht mehr präsentieren.«
DER WELTENWECHSLER
Es hat den Anschein, als würde sich die halbe Menschheit auf der Rialtobrücke drängen; das Bauwerk ist zugleich zart und massiv, wuchtig und elegant. Zwei Reihen vollgepackter kleiner Läden säumen einen breiten Mittelweg. Dieser besteht aus flachen grauen Stufen, die mit dem in der ganzen Stadt verbreiteten Marmor eingefasst sind. Zwischen den Brüstungen und den Läden verlaufen zwei
schmalere Gehsteige, die an den Enden sowie in der Mitte mit dem breiten zentralen Weg verbunden sind. Auf dem südwestlichen Gehsteig herrscht noch mehr Betrieb als auf dem anderen, weil er einen weiteren, offeneren Blick auf den Kanal und das bunte Treiben der Boote auf dem blaugrünen Wasser eröffnet.
Sie haben den Palazzo Chirezzia verlassen. Das Wesen, die Person, diese Kreatur des Schreckens ist unterwegs wie praktisch alle, die noch dort waren, auch Madame persönlich und der Professore. Sie sind nur noch eine Minute entfernt und können die Brücke wahrscheinlich schon sehen.
Das Handy piept, und ich will mich melden, weil es Adrian ist. Dann erlischt das Display. Das Telefon ist tot. Ich stecke es ein und steige im Pulk der Touristen den Brückenbogen hinauf.
MADAME D’ORTOLAN
»Wann, Sir? Warum, Sir? Dann sag ich dir, wann: zwischen dem strümpften Oktopus und dem keinten Distember, DARAUF KANNST DU GIFT NEHMEN!« Bisquitines Ruf hallte von den umgebenden Gebäuden wider.
»Still, mein Liebes«, sagte Mrs. Siankung, weil sie bereits Blicke auf sich zogen.
Sie befanden sich auf der Ruga Orefici, in Sichtweite der Rialtobrücke. Zufrieden tapste Bisquitine inmitten der bunten Ansammlung plumper Körper und unglücklicher Bekleidungsstile dahin. Sie trug noch immer den Frotteemantel, in den man sie nach der Dusche gewickelt hatte, und einen Slip, hatte aber jede Form von Schuhen oder
Pantoffeln eisern abgelehnt. Den Mantel eng um sich gewickelt, ließ sie den Blick über die verschiedenen Läden mit ihren aufregend grellen Auslagen wandern und versuchte erfolglos zu pfeifen.
Als sich links von ihnen der Platz vor San Giacomo di Rialto erstreckte, stieg ihr der Geruch von Backwaren in die Nase.
»Hab Hunger!«, quengelte sie.
»Ich weiß, mein Schatz.« Mrs. Siankung legte ihr den Arm um die Taille. »Bald bekommst du was zu essen.«
»Was gibt’s da zu gaffen, ihr Laffen?«, sagte Bisquitine mit tiefer Stimme zu zwei bronzehäutigen Mädchen, die sie anstarrten und über sie lachten. »Popp die Kapp aufs Pedal, ihr Schlampen, voll auf die Rübe. Aber hallo, hallihallo, halali, das könnt ihr mir glauben.«
»Pst, Liebes.«
Plötzlich stellte sich ein Mann Bisquitine in den Weg. »Claudia?« Sie musste stehen bleiben, die anderen mit ihr. Der Mann war groß gewachsen. Er hatte Salz-und-Pfeffer-Haar, trug einen eleganten Anzug und hatte eine Aktentasche bei sich. Er nahm die Sonnenbrille ab und schaute Bisquitine stirnrunzelnd in die Augen.
»Schlechte Sicht im Sonnlicht, mein Bester«, bemerkte Bisquitine hochfahrend. »Hätte gute Lust, die Kanaille zu kratzen!«
Der Mann schien gleichermaßen verwirrt und besorgt. »Claudia? Bist du das? Du hättest doch zum …« Er machte einen Schritt zurück, als ihm zum ersten Mal die Gruppe von Leuten auffiel, die offensichtlich in Begleitung der Frau waren, die wie eine Bekannte aussah, sich aber ganz anders benahm. »Hey, was zum Teufel …«
Mr. Kleist wartete nicht auf das Nicken von Madame d’Ortolan
und trat nach vorn. »Sir, darf ich Ihnen erklären …« Er rammte dem Mann die ausgestreckten Finger an die Kehle. Ächzend und
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