Welten - Roman
mit weit aufgerissenen Augen umklammerte der Mann seinen Hals und taumelte zurück. Alles war so schnell gegangen, dass niemand etwas bemerkt hatte. »Ich komme gleich nach«, bemerkte Mr. Kleist mit leiser Stimme. Kauernd zog er den Mann nach unten, der immer noch nach Luft rang. Madame d’Ortolan bedachte Mr. Kleist mit einem wütenden Blick, aber er konnte den Mann nicht einfach so zurücklassen. Er sagte sich, dass er hier blieb, damit der Mann außer Gefecht gesetzt blieb und ihnen nicht folgte, aber eigentlich wollte er, dass er nicht mehr diese furchtbaren Würgelaute von sich gab, als wäre er kurz vor dem Ersticken; er wollte ihm Linderung verschaffen. Er kniff den Mann in den Hals, um seine Luftröhre zu öffnen. Eine Gruppe Schaulustiger hatte sich um sie gebildet, und jemand rief nach den Carabinieri. Die entsetzlichen Strangulierungsgeräusche nahmen kein Ende.
Bisquitine wandte sich über die Schulter, als sie weitereilten. »Mönsch, das hat bestimmt wehgetan. Jetzt brauch ich aber’n kräftigen Schluck Sahne. Abmarsch, zackzack!«
»Liebes, bitte«, drängte Mrs. Siankung. »Wir sind schon fast da. Nicht mehr lange.«
»Wann, Sir? Warum, Sir? Dann sag ich dir, wann: mittenmang inne zwischen dem strümpften Oktopäden und dem kleinsten Diktember. Bittschön, dankschön, gern g’schehn, Wiedersehn. Oje oje o weh. Oje o weh auweia. Schwumm? In dem Aufzuch? Haste den Versand vergoren? Jetzt reicht’s, du Heckschein. Ab ins Loch.«
»Kann sie denn niemand zum Schweigen bringen?«, zischte Madame d’Ortolan dem Professore zu, als sie auf die breiten, flachen Stufen der Brücke zueilten.
»Ich glaube …«
Bisquitine unterbrach ihn in beleidigtem Ton. »Na, na! Ruhe auf den billigen Plätzen!«
»Schon gut, Liebes.« Mrs. Siankung tätschelte ihr den Arm und schielte nach hinten zu Madame d’Ortolan.
»Nuu«, intonierte Bisquitine mit ihrer tiefen Männerstimme, »aber trotzdem biste froh, dassde die orme, vergorgste Kreadua fir deine gemoin’ Zwecke missbrauch’n kannst. Iss doch wahr!«
»Still, Bisq!«
»Orme, vergorgste Kreadua, orme, vergorgste Kreadua …«
Inzwischen hatten sie fast den höchsten Punkt der Brücke erreicht, und das Gedränge wurde immer heftiger und chaotischer. Madame d’Ortolan packte Mrs. Siankung am Arm. »Ist er hier?«
Plötzlich hielt Bisquitine an, vollführte ein Tänzchen und deutete triumphierend mit ausgestrecktem Arm. »Bingo! Banditen ahoi, Maaten! Wal, da bläst er!«
ADRIAN
Jetzt stehe ich also hier ganz oben und genau in der Mitte der Rialtobrücke in Venedig, komme mir vor wie eine Marionette und frage mich, ob das nicht doch vielleicht alles nur eine großangelegte, langatmige Verarschung ist. Kann es aber eigentlich nicht sein, oder? Das ganze Geld im Lauf der Jahre war echt, und die Kassette von Mrs. M, die ich Fred mitbringen soll, war bei den Kontrollen in Heathrow nicht in meinem Handgepäck zu sehen. Ist einfach so durchgegangen. Trotzdem kann ich dieses Gefühl von
Was zum Geier mache ich hier überhaupt nicht abschütteln, obwohl es eigentlich ganz nett ist, so in der Sonne, wenn man darauf steht, zwischen Touristen eingekeilt zu sein. Schon wieder muss ich ein paar Schritte zur Seite machen, weil eine Gruppe von Japanern oder Chinesen oder was sie sonst sind ein Foto machen will, wie einer von ihnen genau auf dem höchsten Punkt steht, und plötzlich kommt aus der anderen Richtung dieser Haufen von nicht besonders gut gekleideten Gestalten die Stufen raufmarschiert.
Mitten unter ihnen eine eher nichtssagende Tussi mit völlig zerrauftem Haar und weißem Morgenmantel, die vor sich hin murmelt. Total durchgeknallt. Dann sieht sie mich und trabt auf der Stelle, deutet und brabbelt irgendwas. Genau in diesem Augenblick spüre ich eine Hand am Ellbogen, die mich packt wie ein Brandyglas, aber ich weiß gar nicht, wie mir geschieht, weil diese Typen mit der Irren in Weiß in der Mitte plötzlich alle in meine Richtung starren und auf mich zurennen, während die Person hinter mir leise sagt: »Adrian? Ich bin Fred.«
DER WELTENWECHSLER
Adrian dreht sich zu mir um, und mit einem Mal sind sein Ausdruck und seine Körpersprache völlig verändert. »Tem, mein Liebling«, haucht er.
Ich starre ihn an, dann beobachte ich, wie sich im Gewühl der kommenden und gehenden, plaudernden und lachenden Menschen die anderen nähern. Der kleine Pulk umfasst Madame d’Ortolan, Professore Loscelles und die unheimliche Wesenheit, die in der letzten
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