Welten - Roman
Allgemeinwohl dienten und wir keine Freude dabei empfanden. Im Grunde haben wir
mindestens genauso sehr wie sie darunter gelitten, weil wir uns unserer Handlungen viel stärker bewusst waren. Sie waren doch nur stumpfsinnige Kreaturen, während wir verantwortliche Menschen waren: gebildet, kultiviert, sensibel. Nur den Besten waren die schlimmsten Taten zuzumuten, wie Madame d’Ortolan gern bemerkte.
Dann wurde ich Zeugin eines Vorfalls, den man nur als Foltersitzung bezeichnen kann. Einem Mann, der auf einem Bett festgeschnallt war, wurde eine Mischung aus Psychopharmaka und ätzenden Chemikalien gespritzt. Daraufhin ging ich mit meinen Bedenken zu Theodora, und sie hat mir von dem Unheil erzählt, das uns allen droht. Sie war der festen Überzeugung, dass der Konzern und alle Welten, die er erreichen kann, einer furchtbaren Gefahr ausgesetzt sind, dass eine teuflische Kraft unablässig gegen seine Grenzen brandet - wo immer sie auch liegen - und dass wir uns gegen einen Angriff wappnen müssen. Ohne mir zu viel von meinen Zweifeln anmerken zu lassen, bin ich in sie gedrungen, sich genauer auszudrücken, aber es blieb bis zuletzt unklar, ob sie eine Art Gegenkonzern meint - eine weltumspannende Schattenorganisation, die sich all unseren Unternehmungen entgegenstellt, oder auf Außerirdische und übernatürliche Dämonen aus unfassbaren Dimensionen anspielt. Was zählte, war einzig und allein, dass sie eine existenzielle Bedrohung für den Konzern darstellten. Aus diesem Grund war kein Opfer zu groß und keine Handlung unentschuldbar. Wir hatten die unausweichliche Pflicht, ohne jede Einschränkung alles zu erforschen, was uns im Ernstfall zum Sieg verhelfen konnte - ohne Rücksicht auf irgendwelche kleinlichen und unerheblichen Vorbehalte. Solche Zimperlichkeit konnten wir uns nicht leisten, wir mussten tapfer sein.
Sie hat lange auf mich eingeredet. In dieser Zeit habe ich mich allmählich beruhigt und entspannt, bis ich nicht mehr ganz so verzweifelt war. Mit einem Taschentuch, das sie mir gab, habe ich meine Tränen getrocknet, mehrmals tief durchgeatmet, immer wieder zu ihren Worten genickt, ihre Hand umklammert und sie sogar umarmt, als es mir angemessen vorkam. Zuletzt habe ich ihr für ihre Geduld und den Vorschlag gedankt, mir den Rest des Tages freizunehmen. Das alles habe ich getan und war auch wirklich erleichtert, weil ich gemerkt hatte, dass sie verrückt ist, dass das alles oder zumindest mein Anteil daran bald vorbei sein würde, weil ich von dort verschwinden musste, wenn ich nicht selbst meinen Verstand und Seelenfrieden verlieren wollte. Zwar war ich mir sicher, dass mich Madame d’Ortolan eher einsperren oder gar töten lassen würde, als mir zu erlauben, der Einrichtung trotz meiner Zweifel den Rücken zu kehren, doch mit einem Fluchtversuch musste sich die Sache auf jeden Fall entscheiden - ob in die eine oder in die andere Richtung. Die wahrscheinlichere Möglichkeit, dass sie mich von der Versuchsleiterin zur Versuchsperson degradieren könnte, fiel mir gar nicht ein. Wenn sie mich erwischt hätte, wäre ich bestimmt in einer Gummizelle gelandet oder auf eine Pritsche geschnallt worden. So ist es zwei anderen Abweichlern ergangen, wie ich später erfahren habe.«
Mrs. M beugte sich vor, um einen neuen Chip zu setzen und stieß fast mit dem Rechen zusammen, der den alten einsammelte. Nach kurzem Zögern deutete sie mit dem Kinn auf unsere Jetonstapel. »Wollen wir zusammenlegen?«
»Du hast mehr zu verlieren«, warnte ich sie.
»Trotzdem.«
»Na dann.« Ich schob meinen kleinen Stapel zu ihrem.
Sie nahm all unsere verbliebenen Chips und schichtete sie auf ihr Lieblingsfeld. »Theodora hat sich verrechnet«, fuhr sie fort. »Die Leute in dem Projekt sind sich nähergekommen. Ich habe mich mit einigen Spürern und Septus-Chemikern angefreundet oder sogar mit ihnen geschlafen. Manche von ihnen hatten ebenfalls Skrupel. Andere wollten nur mit jemandem reden. Wieder anderen ging es nur um Sex. Als ich plötzlich ohne Vorwarnung verschwunden bin - obwohl Theodora gleich nach unserem Gespräch eigens ein Team von Spürern und Spähern zu meiner Bewachung angefordert hat -, habe ich keine traditionelle Rauchwolke hinterlassen, aber dafür ein eimergroßes Plastikfass mit einem Vorrat an unaufspürbaren Septus-Pillen mitgenommen, das mir reichen wird, bis ich im Alter verblöde oder Theodora es endlich schafft, mich zu fangen oder zu töten. Es ist sogar genug, um es mit anderen zu
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