Wen das Grab ruft
aufgefallen. Noch einmal warf sie einen Blick dorthin, wo der andere verschwunden war. Sie sah ihn nicht mehr, deshalb konnte sie ihre Vermutung auch nicht bestätigt sehen. Und doch war sie sich sicher. Dieser Soldat hatte eine Uniform getragen, aber keine, wie man sie heute kannte, sondern eine alte, die man trug, als noch der große Krieg Europa zerstörte. Ellen hatte ihn nicht erlebt. Sie kannte den Schrecken nur aus Berichten und von Bildern.
Nachdem der andere nicht mehr zu sehen war, gelang es ihr, sich aus der Erstarrung zu lösen. Der tiefe Atemzug pumpte ihre Brust regelrecht auf, der Schwindel verschwand, und die Füße bekamen auch wieder Bodenkontakt.
Eines stand fest. Das Haus wurde von einem Monstrum umschlichen, das mit der Stimme ihres Mannes sprach. Es hatte sich bisher noch friedlich verhalten, nur fragte sich die Frau, wie lange dies noch der Fall sein würde. Aus diesem Grunde musste sie etwas unternehmen. Nicht zuletzt dachte sie auch an ihre beiden Kinder, die in der oberen Etage schliefen. Sollte der andere ins Haus eindringen wollen und sich an den Kindern vergreifen, sie würde ihres Lebens nicht mehr froh werden. Der Gedanke und auch die Angst um ihre Kinder beflügelten die Frau. Es gab nur eine Möglichkeit. Sie musste das Haus so rasch wie möglich verlassen, bevor es sich das Monstrum anders überlegte. So schnell wie in den nächsten. Momenten war sie noch nie zur Haustür gelaufen. Sie rannte, was die Beine hergaben, holte den Schlüssel hervor, verlor ihn, nahm ihn wieder auf und stellte fest, dass ihre Hände zitterten, als sie öffnen wollte.
Erst beim zweiten Versuch gelang ihr dies. Sie merkte, wie das Schloss aufsprang, drückte die Tür nach innen und schloss sie augenblicklich wieder hinter sich.
»Mummy?«
Eine dünne Stimme drang von oben. Frank war inzwischen wach geworden. Er befand sich schon auf der Holztreppe, und die Frau hörte das Tappen der nackten Füße, als ihr Sohn nach unten kam. Sein Zwillingsbruder Kevin schien noch zu schlafen.
Auf der Treppe noch trafen Mutter und Sohn zusammen. Frank schaute verschlafen und erstaunt. »Was ist denn los, Mummy? Du warst draußen?«
»Ja, mein Schatz. Und du musst auch nach draußen.«
»Aber es ist doch Nacht.« Frank rieb sich die Augen. »Was soll ich denn draußen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich werde dir alles später erklären. Bitte, mein Liebling, tu mir jetzt den Gefallen und geh!«
»Nach draußen?«
»Nein, zieh dich erst an.«
»Okay, Mummy.« Frank verstand es zwar nicht, aber der achtjährige Junge tat, was seine Mutter gesagt hatte.
Ellen lief in das andere Zimmer, schaltete das Licht ein und sah ihren zweiten Sohn Kevin im Bett liegen. Einen kleinen Teddy hielt er an sich gepresst. Der Junge schlief tief und fest.
Die Frau fasste ihn an der Schulter und rüttelte ihn wach. Verschlafen fuhr das Kind in die Höhe, schaute seine Mutter groß an und wollte auch eine Frage stellen.
Ellen hatte keine Zeit. Sie geriet in eine regelrechte Hektik und zog den Jungen hoch. »Bitte, Kevin, zieh dich an! Du musst sehr schnell sein. Streife auch die warme Jacke über.« Beschwörend schaute sie den Kleinen an.
»Was soll ich?«
»Anziehen, Kevin, keine Fragen. Ich hole das Auto aus der Garage.«
»Fahren wir denn weg?«
»Ja.« Nach dieser Antwort verließ Ellen Long das Zimmer, schaute noch bei Frank hinein und sah wie er seine Hose zuknöpfte. Sie erklärte ihm ebenfalls, was sie vorhatte, und Frank nickte nur. Mit zitternden Beinen und klopfendem Herzen lief Ellen die Treppe hinunter. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie hoffte, dass sie trotz der Panik das Richtige getan hatte. Es musste einfach gelingen, mit dem Wagen zu fliehen. Bestimmt war sie schneller als der andere, den sie nicht mehr als ihren Mann ansah, obwohl er mit dessen Stimme gesprochen hatte.
Vor der Haustür blieb sie für einen Moment stehen. Sie fürchtete sich, diese aufzuziehen, denn sie konnte sich gut vorstellen, dass der andere draußen lauerte.
Heftig riss sie die Türe auf, sah die freie Treppe, und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Schnell eilte sie die beiden Stufen bis zum Vorgartenweg, lief über den Rasen und kürzte den Weg zur Garage so ab. Das Tor war nicht verschlossen. Sie kippte es hoch und lief schnell auf die Fahrerseite des grünen Escort zu.
Hastig schloss sie auf, setzte sich hinter das Lenkrad und war froh, dass der Wagen sofort ansprang. Es ging ihr zum Glück nicht so, wie manchen Schauspielern
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