Wen der Rabe ruft (German Edition)
Das war das einzig Wichtige.
»Du willst es doch wohl nicht auf eine Prügelei mit mir ankommen lassen, oder?«, fragte Adam, als wäre er kein bisschen nervös. »Ich dachte immer, das wäre eher Ronans Ding, nicht deins.«
Das zeigte mehr Wirkung, als Adam erwartet hatte: Declan trat sofort einen Schritt zurück. Dann griff er in seine hintere Hosentasche und zog einen zusammengefalteten Umschlag heraus. Adam erkannte das Aglionby-Wappen in der Absenderadresse.
»Er fliegt von der Schule«, sagte Declan und drückte Adam den Brief in die Hand. »Gansey hat mir hoch und heilig versprochen, dass er ihn dazu bringen würde, seine Noten zu verbessern. Tja, das war wohl nichts. Ich habe Gansey vertraut und er hat mich hängen lassen. Wenn er wieder da ist, bestell ihm, dass mein Bruder jetzt seinetwegen rausfliegt.«
Das war zu viel für Adam.
»Oh nein«, entgegnete er und hoffte, dass Ronan zuhörte. »Das hat Ronan ganz allein hingekriegt. Wann begreift ihr zwei endlich, dass Ronan selbst dafür sorgen muss, dass er auf der Aglionby bleibt? Eines Tages muss er seine eigenen Entscheidungen treffen. Und bis dahin verschwendet ihr beide eure Zeit.«
Doch wie wahr seine Worte auch waren: Mit seinem Henrietta-Akzent konnte Adam kein Argument liefern, das jemanden wie Declan überzeugen würde.
Adam faltete den Umschlag wieder zusammen. Gansey würde sich furchtbare Vorwürfe machen. Kurz, ganz kurz nur, zog Adam es in Betracht, ihm das Schreiben einfach nicht zu zeigen, bis es zu spät war, aber er wusste, dass er das nicht fertigbringen würde. »Ich gebe ihm den Brief.«
»Er zieht hier aus«, sagte Declan. »Erinnere Gansey daran. Keine Aglionby, kein Monmouth.«
»Damit unterschreibst du sein Todesurteil«, dachte Adam, denn er konnte sich nicht vorstellen, wie Ronan mit seinem Bruder unter einem Dach leben sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Ronan unter irgendeinem Dach leben sollte, unter dem nicht auch Gansey wohnte, Punkt. Aber er sagte nur: »Ich werd’s ihm ausrichten.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand Declan die Treppe hinunter und einen Moment später hörte Adam seinen Wagen vom Parkplatz fahren.
Adam öffnete den Umschlag und las langsam den Brief. Seufzend kehrte er an den Schreibtisch zurück und griff nach dem Telefon neben dem nun kaputten Minzetopf. Die Nummer wusste er auswendig.
»Gansey?«
Mehrere Stunden entfernt verlor Gansey auf einen Schlag das Interesse am Geburtstag seiner Mutter. Adams Anruf hatte ihm auch noch den letzten Rest seiner guten Laune genommen und nicht lange danach entspann sich zwischen Helen und seiner Mutter ein langes, höflich-enttäuschtes Gespräch, bei dem beide Parteien so taten, als ginge es nicht in Wirklichkeit um Helens nicht-gläsernen Glasteller. Inmitten eines besonders angespannten Nicht-Schlagabtauschs schob Gansey die Hände in die Hosentaschen und spazierte nach draußen zur Garage seines Vaters.
Für gewöhnlich verströmte sein altes Zuhause – eine weitläufige Sandsteinvilla ein Stück außerhalb von Washington, D. C. – eine Art tröstlicher Nostalgie, heute aber fehlte Gansey für so etwas die Geduld. Alles, woran er denken konnte, waren Noahs Skelett, Ronans miese Noten und die Latein sprechenden Bäume.
Und Glendower.
Glendower, der in seiner prachtvollen Rüstung dalag, kaum zu erkennen in der Dunkelheit seines Grabs. In Ganseys Vision in dem Baum hatte er so real gewirkt. Gansey hatte die staubige Oberfläche der Rüstung berührt, seine Finger über den Speer neben ihm gleiten lassen, Spinnweben von dem Kelch in Glendowers gepanzerter Rechter gewischt. Dann war er zu seinem Helm getreten und hatte die Hände danach ausgestreckt. Dies war der Augenblick, auf den er gewartet hatte, die Enthüllung, die Erweckung.
Und genau in diesem Augenblick hatte die Vision geendet.
Gansey hatte immer das Gefühl gehabt, als gäbe es ihn zweimal: einen Gansey, der alles unter Kontrolle hatte, jede Situation handhaben und mit jedem reden konnte, und einen anderen, zerbrechlicheren Gansey, nervös und unsicher, geradezu beschämend ernsthaft und von einer naiven Sehnsucht getrieben. Jener zweite Gansey hatte sich nun mehr denn je in ihm breitgemacht und das gefiel ihm nicht.
Er gab den Zahlencode (Helens Geburtstag) in die Alarmanlage an der Garagentür ein. Die Garage war so groß wie das Haus selbst und bestand ganz aus Stein und Holz und gewölbten Decken. Ein Stall, der mehrere Tausend Pferde unter diversen Motorhauben
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