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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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als zwei Matratzen auf einem schlichten Metallrahmen, das ungemacht mitten im Raum stand. Irgendwie ließ der Anblick jegliche Privatsphäre vermissen.
    Gansey selbst saß mit dem Rücken zu ihnen an einem alten Schreibtisch, blickte aus dem Fenster Richtung Osten und tippte mit seinem Kugelschreiber auf den Tisch. Sein dickes Notizbuch lag aufgeschlagen vor ihm, die Seiten steif vor eingeklebten Buchschnipseln und dunkel vor handschriftlichen Einträgen. Wie schon manches Mal zuvor staunte Adam über Ganseys Alterslosigkeit: ein alter Mann in einem jungen Körper oder ein Junge im Leben eines alten Mannes.
    »Wir sind’s«, sagte Adam.
    Als Gansey nicht reagierte, führte Adam die anderen zu seinem offensichtlich tief in Gedanken versunkenen Freund. Neue Freundin gab eine Reihe von Lauten von sich, die alle mit »O« anfingen. In der Mitte des Raums hatte Gansey aus Cornflakesschachteln, anderen Verpackungen und Wandfarbe eine kniehohe Nachbildung von Henrietta gebaut, sodass die drei Besucher die Hauptstraße hinunterlaufen mussten, um zu seinem Schreibtisch zu gelangen. Adam kannte die Wahrheit: Diese Gebäude waren eine Folge von Ganseys Schlaflosigkeit. Eine neue Wand für jede durchwachte Nacht.
    Dicht neben Gansey blieb Adam stehen. So nah bei ihm roch es stark nach dem Minzeblatt, auf dem er abwesend kaute.
    Adam tippte auf den Kopfhörer in Ganseys Ohr und sein Freund fuhr erschrocken zusammen.
    Gansey sprang auf. »Ach, hallo.«
    Wie immer hatte er etwas von einem uramerikanischen Kriegshelden an sich. Der Eindruck manifestierte sich in seinem zerzausten braunen Haar, permanent vor der Sonne zusammengekniffenen haselnussbraunen Augen, der geraden Nase, die ihm seine angelsächsischen Vorväter so großzügig vererbt hatten. Alles an ihm schien auf Mut, Kraft und einen festen Händedruck hinzudeuten.
    Neue Freundin starrte ihn an.
    Adam konnte sich noch gut erinnern, wie eingeschüchtert er selbst bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Es gab zwei Ganseys: einen echten, inneren, und einen, den er morgens überstreifte, wenn er seine Geldbörse in die Gesäßtasche seiner Chinos steckte. Ersterer war grüblerisch veranlagt und leidenschaftlich und hatte, zumindest für Adams Ohren, keinen erkennbaren Akzent. Letzterer jedoch schien vor unterschwelliger Macht regelrecht zu knistern, wenn er die Leute mit dem glatten, charmanten Tonfall alten Virginia-Geldadels begrüßte. Es war Adam noch immer ein Rätsel, wie Gansey es schaffte, diese beiden Versionen von sich so strikt getrennt zu halten.
    »Ich habe euch gar nicht klopfen gehört«, erklärte Gansey unnötigerweise. Er stieß seine Faust gegen Adams. Bei Gansey wirkte diese Geste liebenswert und unsicher zugleich, wie eine Redensart, die er sich aus einer anderen Sprache ausgeborgt hatte.
    »Ashley, das ist Gansey«, sagte Declan mit seiner angenehmen, neutralen Stimme. Eine Stimme, die auch von Tornadoschäden und kommenden Kaltfronten hätte berichten können. Oder die Nebenwirkungen kleiner blauer Pillen aufzählen. Oder die Sicherheitsunterweisung für den heutigen Flug in dieser schönen Boeing 747 übernehmen. »Dick Gansey«, ergänzte er.
    Wenn Gansey der Meinung war, Declans Freundin sei nichts als ein Verbrauchsgut, ein nachwachsender Rohstoff, dann zeigte er es zumindest nicht. Seine Stimme wurde lediglich einen Hauch kälter, als er korrigierte: »Wie Declan sehr wohl weiß, gibt es nur einen Dick, und das ist mein Vater. Ich bin einfach Gansey.«
    Ashley wirkte eher schockiert als belustigt. »Dick? So wie …« Sie deutete vage auf den Bereich unterhalb von Ganseys Hosenbund.
    »Alter Familienname«, erklärte Gansey mit der Resignation von jemandem, der einen ausgelutschten Witz zum tausendsten Mal erklären musste. »Ich gebe mir alle Mühe, ihn zu ignorieren.«
    »Du gehst doch auch auf die Aglionby, oder? Dieses Apartment ist der Wahnsinn. Warum wohnst du nicht in der Schule?«, wollte Ashley wissen.
    »Weil dieses Gebäude mir gehört«, antwortete Gansey. »Das ist eine viel bessere Investition, als Miete für das Wohnheim zu zahlen. Sein Wohnheimzimmer kann man nach der Schule nicht verkaufen. Und wo ist das Geld dann hin? Einfach weg.«
    Dick Gansey III. konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn darauf hinwies, dass er klang wie Dick Gansey II., in diesem Moment aber war genau das der Fall. Wenn ihnen danach war, waren beide Meister darin, die Logik an der Leine spazieren zu führen, gekleidet in ein schickes kariertes

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