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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Meter hohe Decken und riesige Hallen nötig gewesen waren, etwas, das Flecken auf den Böden und Scharten in den Mauern hinterlassen hatte. Etwas, das die Welt heute nicht mehr brauchte.
    All diese Informationen flüsterte Declan nun hier auf dem Flur in der ersten Etage Neuer Freundin zu, die nervös kicherte, als verriete er ihr ein Geheimnis. Adam beobachtete, wie Declans Lippen beim Sprechen ganz leicht das Ohrläppchen des Mädchens streiften, und wandte genau in dem Moment den Blick ab, als Declan zu ihm aufsah.
    Adam war ein Meister im unbeobachteten Beobachten. Der Einzige, der ihn hin und wieder dabei erwischte, war Gansey.
    Neue Freundin deutete durch eine zersprungene Fensterscheibe auf den Hof hinunter. Declan folgte ihrem Blick zu den schwarzen, aggressiven Linien, die Gansey und Ronan mit dem Camaro auf dem Parkplatz hinterlassen hatten. Declans Miene verhärtete sich – selbst wenn das alles auf Ganseys Mist gewachsen wäre, hätte er immer als Erstes Ronan verdächtigt.
    Adam hatte bereits geklopft, versuchte es aber nun ein zweites Mal: einmal lang, zweimal kurz, sein Signal. »Es ist wahrscheinlich ziemlich unordentlich«, entschuldigte er sich schon im Voraus.
    Die Warnung richtete sich eher an Neue Freundin als an Declan selbst, der genau wusste, in was für einem Zustand sich das Apartment befinden würde. Adam vermutete, dass Declan dem Chaos einen gewissen Charme auf Außenstehende zuschrieb. Wenn Declan eines war, dann berechnend. Er hatte es auf die Tugend seiner Freundin abgesehen und mit diesem Ziel vor Augen hatte er sicherlich jeden Schritt des Abends vorausgeplant, selbst diesen kurzen Abstecher zum Monmouth Manufacturing.
    Noch immer machte niemand auf.
    »Soll ich mal anrufen?«, bot Declan an.
    Adam versuchte, den Knauf zu drehen, doch die Tür schien abgeschlossen zu sein. Er half mit dem Knie nach, bis sie sich ein wenig aus den Angeln hob – und schließlich aufschwang. Neue Freundin stieß ein anerkennendes Geräusch aus, Adam jedoch sah den Erfolg dieses Einbruchs eher in den Mängeln der Tür begründet als in seiner Stärke.
    Sie betraten die Wohnung und Neue Freundin legte den Kopf in den Nacken, weiter, noch weiter. Die Decke hoch über ihnen schien förmlich zu schweben, nackte Eisenstreben stützten das Dach. Ganseys selbst gestaltetes Loft erinnerte an das Labor eines Träumers. Vor ihnen erstreckte sich die gesamte obere Etage, Hunderte von Quadratmetern groß. Zwei Seiten bestanden komplett aus alten Fenstern – Dutzende kleine, verzerrte Scheiben, hin und wieder von ein paar klaren durchsetzt, die Gansey ausgetauscht hatte –, die beiden anderen Wände dagegen waren mit Karten bedeckt: die Berge von Virginia, von Wales, von Europa. Filzstiftlinien zogen sich über jede einzelne. Gegenüber dem Eingang spähte ein Teleskop gen Westen in den Himmel und über den Boden ringsum lagen haufenweise geheimnisvolle elektronische Geräte verstreut, mit denen sich magnetische Aktivität messen ließ.
    Und überall, einfach überall, lagen Bücher. Nicht ordentlich gestapelt, wie es ein Intellektueller getan hätte, um seine Gäste zu beeindrucken, sondern kreuz und quer über- und durcheinander wie bei einem besessenen Wissenschaftler. Manche davon waren nicht mal auf Englisch. Manche waren Wörterbücher für die Sprachen, in denen die anderen Bücher verfasst waren. Manche waren allerdings auch Bademodenausgaben der Sports Illustrated .
    Adam verspürte den vertrauten Stich. Es war kein Neid, bloß Sehnsucht. Eines Tages würde er genug Geld haben, um sich auch so eine Wohnung zu kaufen. Eine Wohnung, die so aussah, wie Adam sich fühlte.
    Ein leises Stimmchen in Adam bezweifelte, dass er sich jemals so herrschaftlich fühlen würde, und gab zu bedenken, dass das vielleicht eher etwas war, mit dem man geboren werden musste. Gansey war, wie er war, weil er schon immer Geld gehabt hatte, vergleichbar einem Musikvirtuosen, der auf den Klavierhocker gehoben worden war, sobald er nur aufrecht sitzen konnte. Adam hingegen, der Nachzügler, ein Eindringling in dieser Welt, stolperte immer noch regelmäßig über seinen ländlichen Henrietta-Dialekt und sammelte sein Kleingeld in einer Schachtel unter dem Bett.
    An Declans Seite presste sich Neue Freundin erschrocken die Hände auf die Brust, eine unbewusste Reaktion auf männliche Nacktheit. In diesem Fall handelte es sich allerdings nicht um einen nackten Menschen, sondern um einen Gegenstand: Ganseys Bett, bestehend aus nichts

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