Wen der Rabe ruft (German Edition)
die erste einleuchtend, und das auch nur gerade so. Aber mit Gansey befreundet zu sein, bedeutete eben, mehr Hoffnungen in die zweite zu setzen. Und in diesem Punkt übertraf ihn Ronan, sehr zu Adams Unzufriedenheit, bei Weitem: Sein Vertrauen in die übernatürliche Erklärung geriet niemals ins Wanken. Adams Glaube hingegen war einfach nicht fest genug.
Ashley wurde, entweder weil sie quasi auf der Durchreise war oder weil Gansey sie als Skeptikerin einstufte, nur die historische Variante zuteil. In bester Professorenmanier berichtete er von den walisischen Ortsnamen in der Gegend, den Artefakten aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die in der Erde Virginias verborgen gelegen hatten, und den geschichtlichen Hinweisen auf eine frühe, walisische Exkursion nach Amerika, lange vor Kolumbus’ Zeiten.
Inmitten dieses Vortrags trat Noah, der scheue dritte Mitbewohner von Monmouth Manufacturing, aus dem penibel sauber gehaltenen Raum neben dem Büro, das Ronan als sein Zimmer beanspruchte. Noahs Bett musste sich das winzige Kämmerchen mit einer mysteriösen Maschine teilen, die Adam für eine Art Druckerpresse hielt.
Noah, der sich nun ein paar Schritte weiter in den Raum wagte, lächelte Ashley weniger zu, als dass er sie anstarrte. Er war nicht besonders gut im Umgang mit neuen Bekanntschaften.
»Das ist Noah«, stellte Declan vor. Sein Tonfall bestätigte Adams Verdacht: Monmouth Manufacturing und die Jungs, die dort wohnten, waren für Declan und Ashley eine Art Touristenattraktion, etwas, worüber sie sich später beim Essen unterhalten konnten.
Noah streckte die Hand aus.
»Ui, ist die kalt!« Hastig barg Ashley die Finger an ihrem Oberteil, um sie zu wärmen.
»Ich bin seit sieben Jahren tot«, sagte Noah. »Wärmer geht es nicht.«
Anders als sein makelloses Zimmer machte Noah stets einen etwas schmuddeligen Eindruck. Seine Kleidung, sein helles, mehr oder weniger zurückgekämmtes Haar – irgendetwas an ihm wirkte immer unordentlich. Der Anblick seiner schlecht sitzenden Schuluniform gab Adam das Gefühl, selbst nicht ganz so aus der Masse herauszustechen. Es war nicht leicht, sich wie ein Teil von Aglionby zu fühlen, wenn man neben Gansey stand, dessen frisch gestärktes weißes Hemd George Washington persönlich zur Ehre gereicht hätte und mehr gekostet hatte als Adams Fahrrad (jeder, der behauptete, es existiere kein Unterschied zwischen einem Hemd aus dem Einkaufszentrum und einem Hemd von einem guten italienischen Schneider, hatte noch nie eins der zweiten Kategorie gesehen). Oder selbst neben Ronan, der neunhundert Dollar für ein Tattoo hinblätterte, nur um seinen Bruder zu ärgern.
Ashleys höfliches Kichern versiegte, als Ronans Zimmertür aufging. Eine Wolke, die alle Hoffnung begrub, es könnte jemals wieder die Sonne scheinen, schob sich über Declans Gesicht.
Mit ihren dunkelbraunen Haaren und den scharf geschnittenen Nasen waren Ronan und Declan Lynch unverkennbar Brüder, doch während Ronan sprunghaft war, wirkte Declan grundsolide. Declans breiter Kiefer und ebenso breites Lächeln schienen »Wählt mich« zu verkünden, wohingegen Ronans kurz rasiertes Haar und dünne Lippen eine Warnung ausgaben: »Achtung, giftig.«
»Ronan«, sagte Declan. Bei ihrem Telefonat am Vormittag hatte er sich extra erkundigt, wann Ronan keine Zeit hatte. »Ich dachte, du wärst beim Tennis?«
»War ich auch«, antwortete Ronan.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, während Declan überlegte, wie viel er vor Ashley sagen wollte, und Ronan die Wirkung genoss, die diese unbehagliche Stille auf seinen Bruder hatte. Die beiden älteren Lynch-Brüder – insgesamt gingen drei auf die Aglionby – lagen miteinander im Clinch, solange Adam sie kannte. Im Gegensatz zu den meisten anderen mochte Gansey Ronan lieber als dessen älteren Bruder Declan und somit waren die Fronten abgesteckt. Adam vermutete, dass der Grund dafür Ronans Ehrlichkeit war, die zwar oft unerträglich, aber in Ganseys Augen auch die höchste Tugend war.
Declan zögerte einen Augenblick zu lange und Ronan verschränkte die Arme vor der Brust. »Da hast du dir echt einen ganz tollen Typen geangelt, Ashley. Im Ernst, du wirst eine großartige Nacht mit ihm verbringen und morgen ist dann die Nächste an der Reihe und für die wird es genauso großartig.«
Hoch über ihren Köpfen warf sich eine Fliege summend gegen eine der Fensterscheiben. Ronans Zimmertür, dekoriert mit seinen Strafzetteln für zu schnelles Fahren, schwang langsam
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