Wen der Rabe ruft (German Edition)
Mäntelchen.
»Mein Gott«, sagte Ashley. Sie warf Adam einen Blick zu. Nur ganz kurz, dennoch dachte er sofort an die leicht ausgefranste Pullovernaht auf seiner Schulter.
Nur nicht dran knibbeln. Sie guckt gar nicht hin. Das fällt niemandem auf außer dir.
Adam zwang sich, die Schultern zu straffen und seine Uniform so lässig zu tragen wie Gansey oder Ronan.
»Ash, du wirst nicht glauben, warum Gansey ausgerechnet hier gelandet ist«, sagte Declan. »Erklär’s ihr, Gansey.«
Wenn es um Glendower ging, konnte Gansey nie widerstehen. Er fragte: »Was weißt du über walisische Könige?«
Ashley spitzte die Lippen und zupfte nachdenklich an der Haut unterhalb ihrer Kehle. »Hmm. Llewellyn? Glendower? Die englischen Marcher Lords?«
Das Lächeln auf Ganseys Gesicht hätte mehrere Kohlebergwerke erleuchten können. Adam hatte noch nie zuvor von Llewellyn oder Glendower gehört, als sie sich kennengelernt hatten. Gansey hatte ihm erst erklären müssen, wie der walisische Edelmann Owain Glyndŵr – Owen Glendower für alle, die kein Walisisch sprachen – im Mittelalter für die Freiheit seines Vaterlandes gegen England gekämpft hatte und dann, als seine Ergreifung unausweichlich schien, spurlos verschwunden war, sowohl von der Insel als auch aus den Geschichtsbüchern.
Aber Gansey machte es überhaupt nichts aus, das Ganze noch einmal zu erzählen. Er berichtete von den Ereignissen, als hätten sie sich soeben erst zugetragen, und schien immer wieder gleich fasziniert von den magischen Zeichen, die Glendowers Geburt begleitet hatten, den Gerüchten, er habe sich unsichtbar machen können, den unwahrscheinlichen Siegen gegen wesentlich größere Armeen und, schließlich, seiner mysteriösen Flucht. Wenn Gansey erzählte, sah Adam die sanften grünen Hügel von Wales vor sich, die breite, glitzernde Oberfläche des Flusses Dee, die rauen Berge des Nordens, in denen Glendower verschollen war. In Ganseys Geschichten konnte Owain Glyndŵr nicht sterben.
Während er ihm diesmal zuhörte, wurde Adam klar, dass Glendower für Gansey mehr als eine historische Persönlichkeit war. Er war alles, von dem Gansey sich wünschte, er wäre es selbst: weise und tapfer, sich seiner Bestimmung und der Unterstützung des Übernatürlichen gewiss, von allen respektiert und selbst nach Jahrhunderten noch immer eine Legende.
Gansey, der nun ganz in seiner Geschichte aufging, sich wieder von ihrem Zauber umfangen ließ, fragte Ashley: »Hast du mal etwas von den Sagen über die schlafenden Könige gehört? Denen zufolge Helden wie Llewellyn, Glendower oder Artus nicht wirklich tot sind, sondern nur in ihren Gräbern schlafen und darauf warten, geweckt zu werden?«
Ashley blinzelte ausdruckslos und bemerkte dann: »Klingt wie eine Metapher.«
Vielleicht war sie gar nicht so dumm, wie sie gedacht hatten.
»Kann schon sein«, erwiderte Gansey. Mit großer Geste deutete er auf die Landkarten an der Wand, die all die Ley-Linien zeigten, auf denen, wie er glaubte, Glendower gereist war. Er griff nach dem Notizbuch hinter sich und blätterte durch die Einträge und Karten darin. »Ich glaube, dass Glendowers Leiche in die Neue Welt gelangt ist. Hierher, um genau zu sein. Nach Virginia. Ich versuche herauszufinden, wo er begraben liegt.«
Zu Adams Erleichterung erwähnte Gansey nicht, dass er auch jenen Legenden Glauben schenkte, laut denen Glendower Jahrhunderte später noch am Leben sein sollte. Und auch nicht, dass er glaubte, Glendower würde demjenigen, der ihn aus seinem ewigen Schlaf erweckte, seine Gunst erweisen. Er erwähnte nicht, wie sehr ihn sein Wunsch, den verlorenen König aufzuspüren, umtrieb, wie sehr er ihn quälte. Er erwähnte auch nicht die mitternächtlichen Anrufe bei Adam, wenn er vor lauter Besessenheit von seiner Suche wieder mal nicht schlafen konnte. Genauso wenig wie die Mikrofilme und die Museen, die Zeitungsartikel und Metalldetektoren, die vielen Flugmeilen und die abgewetzten Sprachführer.
Und er erwähnte nichts, was mit Magie oder der Ley-Linie zu tun hatte.
»Das ist doch verrückt«, bemerkte Ashley, die den Blick nicht von dem Notizbuch wenden konnte. »Wie kommst du denn darauf, dass er hier ist?«
Auf diese Frage gab es zwei mögliche Antworten. Die erste basierte ausschließlich auf historischen Fakten und war daher für die breite Masse geeignet. Bei der anderen spielten außerdem noch Wünschelruten und Magie eine Rolle. An manchen Tagen, den richtig miesen, erschien Adam höchstens
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