Wen der Rabe ruft (German Edition)
Hause, einsam und gequält, ohne auch nur für eine Sekunde vergessen zu können, dass er einst einer von ihnen gewesen war.
Wann ist das hier zu meinem Leben geworden?
Whelk zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich nicht erinnern, dass er mal geschwänzt hätte.«
»Aber du hast ihn auch mit Gansey zusammen, oder?«, fragte Milo. »Das erklärt alles. Die beiden sind wie Pech und Schwefel.«
Diesen Ausdruck hatte Whelk schon lange nicht mehr gehört und er dachte an seine eigene Zeit an der Aglionby. Er und sein Zimmergenosse Czerny waren ebenfalls wie Pech und Schwefel gewesen. Plötzlich spürte er eine Leere in sich, einen nagenden Hunger, so als hätte er lieber zu Hause bleiben und weitertrinken sollen, um dieses schrecklichen Tages zu gedenken.
Langsam kämpfte sich sein Geist zurück in die Gegenwart und er warf einen Blick auf die Anwesenheitsliste, die der Vertretungslehrer hatte liegen lassen. »Ronan war heute da, aber Gansey nicht. Zumindest nicht in meiner Stunde.«
»Oh, das liegt wahrscheinlich an dieser Markustagsgeschichte, von der er gesprochen hat«, erwiderte Milo.
Whelk wurde hellhörig. Kein Mensch wusste, dass heute Markustag war. Niemand feierte diesen Tag, nicht mal die Mutter des heiligen Markus. Nur Whelk und Czerny, Schatzjäger und Unruhestifter, hatten sich für seine Existenz interessiert.
»Wie bitte?«, fragte Whelk.
»Ich weiß nicht genau, was da los ist«, antwortete Milo. Ein Kollege, der aus dem Lehrerzimmer kam, grüßte und Milo drehte sich kurz zu ihm um. In Gedanken packte Whelk Milo am Arm und zwang ihn, seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu richten. Es kostete ihn alles, was er an Selbstbeherrschung aufbieten konnte, stattdessen abzuwarten. Als Milo sich ihm wieder zuwandte, schien er Whelks Interesse zu bemerken, denn er fügte hinzu: »Hat er dir nichts davon erzählt? Gestern hat er doch praktisch von nichts anderem geredet. Wieder irgendwas mit diesen Ley-Linien, mit denen er es ständig hat.«
Ley-Linien.
Wenn schon niemand vom Markustag wusste, dann erst recht nicht von den Ley-Linien. Und ganz sicher niemand in Henrietta. Ganz sicher nicht einer von Aglionbys reichsten Schülern. Und schon gar nicht in Verbindung mit dem Markustag. Das hier war Whelks Suche, Whelks Schatz, Whelks Jugend. Warum redete Richard Gansey III. über diese Dinge?
Als er das Wort »Ley-Linien« laut ausgesprochen hörte, stieg eine Erinnerung in ihm auf: Whelk in einem dichten Wald, Schweiß auf seiner Oberlippe. Er war siebzehn und zitterte heftig. Bei jedem Herzschlag leuchteten rote Linien an den Rändern seines Sichtfelds auf, bei jedem Pochen seines Pulses verdunkelten sich die Bäume. Es ließ die Blätter wirken, als bewegte sich jedes einzelne von ihnen, obwohl kein Wind wehte. Czerny lag auf der Erde. Nicht tot, aber kurz davor. Die Beine strampelten noch auf dem unebenen Grund neben seinem roten Auto, wirbelten das Laub auf. Sein Gesicht war … am Ende. In Whelks Kopf zischten und wisperten Stimmen, die Worte verschwammen, dehnten sich und liefen ineinander.
»Irgendeine Energiequelle oder so«, sagte Milo.
Plötzlich fürchtete Whelk, Milo könne seine Erinnerungen sehen, die fremden Stimmen in seinem Kopf hören, unverständlich, aber stets anwesend, seit jenem fatalen Tag.
Whelk setzte ein teilnahmsloses Gesicht auf, gleichzeitig aber dachte er: »Wenn noch jemand hier sucht, muss ich richtiggelegen haben. Es muss hier sein.«
»Was, hat er gesagt, soll das mit dieser Ley-Linie?«, fragte er bemüht ruhig.
»Ich weiß nicht. Frag ihn doch. Ich bin sicher, er freut sich, wenn er dich damit vollquatschen darf.« Milo wandte sich wieder ab, als die Schulsekretärin sich zu ihnen gesellte, die Handtasche über dem Arm, ihre Jacke in der Hand. Ihr Eyeliner war verschmiert nach einem langen Tag im Büro.
»Worum geht’s, Gansey den Dritten und sein Esoterikgeschwafel?«, fragte sie. Sie hatte sich das Haar mit einem Bleistift hochgesteckt und Whelk starrte auf die Strähnen, die sich um die Mine wanden. An der Art, wie sie dastand, erkannte er, dass sie sich insgeheim zu Milo hingezogen fühlte, trotz all der Karos und des Cords und seines Barts. Sie fragte: »Habt ihr eine Ahnung, wie reich Gansey senior ist? Ich frage mich, ob er eigentlich weiß, womit der Junge seine Zeit verschwendet. Oh Mann, manchmal will man sich bei diesen ganzen selbstgerechten kleinen Mistkerlen doch einfach nur die Pulsadern aufschneiden. Jonah, kommst du noch eine mit mir
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