Wen der Rabe ruft (German Edition)
Radioantenne aufzuspüren. Zwei Tage lang hatten sie endlose von Gletschern geformte Ebenen, übersät mit runden, meterhohen Heuballen, durchstreift und waren dabei auf Quellen, winzige Höhlen, vom Blitz zurückgelassene Baumstümpfe und Steine mit seltsamen Markierungen gestoßen. Gansey hatte versucht, den Jungen davon zu überzeugen, mit ihm an die Ostküste zu kommen und sein wunderliches Talent an der dortigen Ley-Linie zu erproben, doch dessen krankhafte Angst vor geschlossenen Räumen schloss Flug- und Autoreisen aus. Und zum Laufen war es dann doch ein bisschen weit.
Trotzdem war das ganze Unterfangen nicht völlig sinnlos gewesen. Vielmehr hatte es einen weiteren Beweis für die amorphe Theorie geliefert, die Adam gerade beschrieben hatte: Zwischen Ley-Linien und Elektrizität ließ sich eine Verbindung herstellen. Energie plus Energie.
Wie passend.
Als er an die Kasse trat, bemerkte Gansey Noah, der plötzlich wieder neben ihm stand. Sein Gesicht wirkte angespannt und gehetzt. Da das für Noah nicht untypisch war, machte Gansey sich erst mal keine Gedanken. Er reichte dem Kassierer ein zusammengefaltetes Päckchen Geldscheine. Noah trat von einem Fuß auf den anderen.
»Was ist los, Noah?«, fragte Gansey.
Noah schien die Hände zuerst in die Taschen stecken zu wollen, tat es dann aber doch nicht. Irgendwie schien es für seine Hände weniger Orte zu geben, an denen er sie lassen konnte, als bei anderen Leuten. Schließlich ließ er sie einfach herunterhängen und sah Gansey an. Dann sagte er: »Declan ist hier.«
Ein hastiger Blick durch das Restaurant führte zu keinem Ergebnis. »Wo?«, fragte Gansey
»Auf dem Parkplatz«, sagte Noah. »Er und Ronan …«
Ohne das Ende des Satzes abzuwarten, stürzte Gansey hinaus in den dunklen Abend. Er schlitterte um die Ecke des Gebäudes und erreichte gerade rechtzeitig den Parkplatz, um zu sehen, wie Ronan die Faust ballte.
Er schien unendlich lange auszuholen.
Wie es aussah, war dies der Eröffnungsschlag. Im kränklich grünen Licht einer summenden Straßenlaterne wirkte Ronan unerschütterlich, sein Gesicht hart wie Granit. Der Hieb geriet keinen Moment ins Stocken; Ronan hatte sich mit den Konsequenzen seines Schlags abgefunden, bevor er auch nur die Faust gehoben hatte.
Gansey verdankte seinem Vater die Fähigkeit logischen Denkens, sein Interesse am Erforschen von Unbekanntem und einen Treuhandfonds, größer als die meisten Lotteriegewinne.
Die Lynch-Brüder dagegen verdankten ihrem Vater ihre unzerstörbaren Egos, zehn Jahre Unterricht auf ausgefallenen irischen Musikinstrumenten und einen Boxstil, bei dem es immer um Leben und Tod zu gehen schien. Niall Lynch war nicht oft zu Hause gewesen, doch wenn er es gewesen war, hatte er einen hervorragenden Lehrer abgegeben.
» Ronan!«, schrie Gansey, aber es war zu spät.
Declan ging zu Boden, war jedoch, bevor Gansey sich auch nur rühren konnte, schon wieder auf den Beinen und rammte seinem Bruder die Faust ins Gesicht. Ronan stieß eine Reihe von Flüchen aus, so vielgestalt und treffend, dass es Gansey nicht erstaunt hätte, wenn allein die Worte Declan niedergestreckt hätten. Arme wirbelten durch die Luft, Knie donnerten gegen Brustkörbe, Ellbogen krachten in Gesichter. Schließlich packte Ronan Declan an dessen Jackett und schleuderte ihn auf die spiegelblanke Haube seines Volvos.
»Nicht das Auto, verdammt!«, knurrte Declan mit blutiger Lippe.
Dies war die Geschichte der Familie Lynch: Es war einmal ein Mann namens Niall Lynch, der hatte drei Söhne, von denen liebte einer den Vater mehr als die beiden anderen. Niall Lynch war gut aussehend, charismatisch, reich und geheimnisvoll und wurde eines Tages aus seinem anthrazitgrauen BMW gezerrt und zu Tode geprügelt. Es geschah an einem Mittwoch. Am Donnerstag fand sein Sohn Ronan die Leiche in der Auffahrt. Am Freitag hörte seine Mutter auf zu sprechen und sollte nie wieder damit anfangen.
Am Samstag erfuhren die Lynch-Brüder, dass der Tod ihres Vaters sie reich und obdachlos zurückließ. Sein Testament untersagte es ihnen, irgendetwas im Haus auch nur zu berühren – ihre Kleider, die Möbel. Ihre schweigende Mutter. Stattdessen verlangte das Testament, dass sie unverzüglich in die Aglionby Academy umzogen. Declan, der Älteste, sollte das Vermögen und ihrer aller Leben verwalten, bis seine Brüder achtzehn wurden.
Am Sonntag stahl Ronan den Wagen seines toten Vaters.
Am Montag endete die Freundschaft zwischen den
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