Wen der Rabe ruft (German Edition)
ein Kribbeln in den Fingern auslöste, wenn sie sich direkt darüber befanden. Für Blue fühlten sich die Karten natürlich alle gleich an. Eine jedoch war ein Stück weiter gerutscht als die anderen und diese wählte sie aus.
Als Blue sie umdrehte, entfuhr ihr ein kurzes, hilfloses Lachen.
Der »Bube der Kelche« blickte ihr mit ihrem eigenen Gesicht entgegen. Es war, als wollte jemand sich über sie lustig machen, aber sie konnte niemand anderen für die Wahl dieser Karte verantwortlich machen als sich selbst.
Als Maura die Karte sah, wurde ihre Stimme ganz ruhig, abweisend. »Nicht diese Karte. Er muss eine andere wählen.«
»Maura«, protestierte Persephone sanft, aber Maura brachte sie mit einem Wink zum Schweigen.
»Eine andere Karte«, beharrte sie.
»Was stimmt denn nicht mit dieser hier?«, wollte Gansey wissen.
»Sie war durch Blues Energie beeinflusst«, sagte Maura. »Sie war nicht für dich bestimmt. Du musst doch selbst eine ziehen.«
Persephone schürzte ein paarmal die Lippen und zog sie wieder zurück, aber sie sagte nichts. Blue gab die Karte zurück in den Stapel und mischte neu, diesmal ohne dramatische Showeinlagen.
Als sie ihm die Karten hinhielt, drehte Gansey das Gesicht weg, als zöge er den Gewinner einer Tombola. Nachdenklich strich er mit den Fingern über die Ränder der Karten. Schließlich wählte er eine aus und drehte sie um, um sie den anderen zu zeigen.
Es war der »Bube der Kelche«.
Er sah auf das Gesicht auf der Karte, dann hoch in Blues Gesicht, und Blue wusste, dass ihm die Ähnlichkeit auffiel.
Maura beugte sich vor und riss ihm die Karte aus der Hand. »Zieh eine andere.«
»Warum jetzt wieder?«, fragte Gansey. »Was ist denn mit dieser Karte? Was bedeutet sie?«
»Nichts ist damit«, antwortete Maura. »Es ist nun mal einfach nicht deine.«
Zum ersten Mal erkannte Blue in Ganseys Blick Anzeichen ehrlicher Verärgerung und das machte ihn ihr gleich sympathischer. Also lag vielleicht doch noch etwas anderes hinter der Fassade dieses Raven Boys. Übertrieben lässig schnappte Gansey sich eine andere Karte. Er hatte ganz offensichtlich genug von dem Zirkus. Mit großer Geste drehte er die Karte um und knallte sie auf den Tisch.
Blue schluckte.
Maura sagte: »Das ist deine Karte.«
Die Karte auf dem Tisch zeigte einen schwarzen Ritter auf einem weißen Pferd. Das Visier seines Helms war hochgeschoben, sodass man deutlich sein Gesicht sehen konnte: einen nackten Schädel mit leeren Augenhöhlen. Hinter ihm sank die Sonne und unter den Hufen seines Pferdes lag eine Leiche.
Draußen, vor den Fenstern in ihrem Rücken, strich mit einem lauten Zischen der Wind durch die Bäume.
»›Der Tod‹«, las Gansey vor, was unten auf der Karte stand. Er wirkte nicht überrascht oder erschrocken. Er las es einfach vor, genauso wie er »ein Karton Eier« oder »Cincinnati« vorlesen würde.
»Na super, Maura«, schimpfte Calla und verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Möchtest du das dem Jungen erklären?«
»Vielleicht sollten wir ihm einfach sein Geld zurückgeben«, schlug Persephone vor, obwohl Gansey noch gar nicht bezahlt hatte.
»Ich dachte, Hellseher sagen nie den Tod voraus«, bemerkte Adam leise. »Ich hab gelesen, dass die Todeskarte nur symbolisch für etwas anderes steht.«
Maura, Persephone und Calla gaben nicht näher zu deutende Geräusche von sich. Blue, die sich Ganseys Schicksal plötzlich nur zu bewusst war, fühlte sich grauenhaft. Aglionby-Junge hin oder her, er war gerade mal so alt wie sie selbst, er hatte ganz offensichtlich Freunde, denen er am Herzen lag, und ein Leben, in dem ein extrem orangefarbenes Auto eine Rolle spielte, und der Gedanke, dass er in weniger als zwölf Monaten tot sein würde, war unerträglich.
»Ehrlich gesagt«, meldete sich Gansey zu Wort, »ist mir das eigentlich ziemlich egal.«
Jedes Paar Augen im Raum war auf ihn gerichtet, während er die Karte aufstellte, um sie genauer zu betrachten.
»Ich meine, das mit den Karten ist ja alles sehr interessant«, sagte er. Er sagte es so, wie jemand den Geschmack eines sehr eigenartigen Kuchens »interessant« nennen würde, den er nicht aufessen wollte. »Und ich will das, was Sie hier tun, gar nicht abwerten. Aber ich bin eigentlich nicht hergekommen, um mir die Zukunft vorhersagen zu lassen. Ich finde auch sehr gerne selbst heraus, was sie für mich bereithält.«
Hierbei warf er Calla einen flüchtigen Blick zu. Offenbar war ihm klar, dass er sich gerade auf
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