Wen der Rabe ruft (German Edition)
der ihr plötzlich provinziell und ungebildet vorkam. Hörte sie sich selbst etwa genauso an?
»Du zögerst, eine schwere Entscheidung zu treffen«, fuhr Maura fort. »Du handelst, indem du nicht handelst. Du bist ehrgeizig, aber jemand verlangt etwas von dir, das zu geben du nicht bereit bist. Jemand, der dir sehr nahesteht, glaube ich. Dein Vater?«
»Eher Bruder, würde ich sagen«, warf Persephone ein.
»Ich habe keinen Bruder, Ma’am«, erklärte Adam, aber Blue sah seinen Blick zu Gansey huschen.
»Möchtest du vielleicht eine Frage stellen?«, bot Maura an.
Adam überlegte. »Welches ist die richtige Entscheidung?«
Maura und Persephone berieten sich. Dann antwortete Maura: »Es gibt keine richtige Entscheidung. Nur eine, mit der du leben kannst. Es könnte noch eine dritte Möglichkeit geben, mit der du zufriedener wärst, aber momentan kannst du sie nicht erkennen, weil du zu beschäftigt mit den anderen beiden bist. Nach dem zu schließen, was ich hier sehe, müsstest du dich für diesen dritten Weg vollkommen von den beiden anderen Möglichkeiten lösen und deine eigene schaffen. Ich habe auch das Gefühl, dass du sehr analytisch denkst. Du hast lange Zeit die Kunst perfektioniert, deine Gefühle zu unterdrücken, aber ich glaube, dafür ist jetzt nicht die richtige Zeit.«
»Danke«, sagte Adam. Das war zwar nicht ganz das, was man in einer solchen Situation sagte, aber völlig daneben war es auch nicht. Blue gefiel seine Höflichkeit. Es war eine andere Art von Höflichkeit als Ganseys. Wenn Gansey höflich war, verlieh ihm das nur noch mehr Macht. Wenn Adam höflich war, gab er Macht ab.
Es erschien ihr richtig, Gansey bis zum Schluss übrig zu lassen, also machte Blue mit Ronan weiter, obwohl sie ein wenig Angst vor ihm hatte. Er hatte noch überhaupt nichts gesagt und doch war es, als würde er Gift versprühen. Am schlimmsten war, zumindest in Blues Augen, dass seine Feindseligkeit in ihr den Wunsch auslöste, sich um seine Anerkennung zu bemühen, seinen Beifall zu suchen. Es schien, als wäre die Anerkennung eines Menschen wie ihm, der ganz offensichtlich alles und jeden verachtete, mehr wert als die anderer.
Um Ronan die Karten hinzuhalten, musste Blue aufstehen, weil er immer noch neben Calla an der Tür stand. Die beiden sahen aus, als könnte jeden Moment ein Boxkampf zwischen ihnen ausbrechen.
Als Blue die Karten auffächerte, musterte Ronan nacheinander die Frauen im Zimmer und verkündete: »Ich nehme keine, solange Sie mir nicht etwas Wahres erzählt haben.«
»Wie bitte?«, antwortete Calla steif an Mauras Stelle.
Ronans Stimme war wie Glas, kalt und spröde. »Alles, was Sie zu ihm gesagt haben, könnte genauso gut für jeden anderen gelten. Jeder, der einen Pulsschlag hat, hat Zweifel. Jeder Mensch auf der Welt hatte schon mal Streit mit seinem Vater oder Bruder. Erzählen Sie mir was, was niemand sonst wissen kann. Zeigen Sie mir nicht bloß irgendeine Spielkarte und kommen mir dann mit Ihrem Psychogequatsche. Sagen Sie mir was Konkretes.«
Blues Augen wurden schmal. Persephone streckte die Zunge ein Stückchen heraus, eine Angewohnheit, die ihrer Unsicherheit entsprang und nicht etwa unverschämt gemeint war. Maura rutschte verärgert hin und her. »Wir befassen uns nicht mit konkre…«
Calla schnitt ihr das Wort ab. »Ein Geheimnis hat deinen Vater getötet. Und du kennst dieses Geheimnis.«
Es wurde totenstill im Zimmer. Persephone und Maura starrten Calla an. Gansey und Adam starrten Ronan an. Blue starrte auf Callas Hand.
Maura bat Calla oft dazu, wenn sie Tarotkarten legte, und Persephone bat Calla manchmal dazu, wenn sie Träume interpretierte, aber kaum jemand machte je Gebrauch von Callas außergewöhnlichstem Talent: der Psychometrie. Calla hatte die unheimliche Fähigkeit, einen Gegenstand nur zur Hand nehmen zu müssen, um seine Herkunft zu erspüren, die Gedanken seines Besitzers zu lesen und Orte zu sehen, an denen er gewesen war.
Jetzt zog Calla die Hand weg – sie hatte Ronans Tätowierung berührt, wo sie aus seinem Kragen lugte. Sein Kopf war leicht in ihre Richtung gedreht, seine Augen schmal.
Ronan und Calla hätten genauso gut allein im Raum sein können. Er war einen Kopf größer als sie, wirkte jedoch jung neben ihr, wie eine schlaksige Wildkatze, die ihr endgültiges Gewicht noch nicht erreicht hatte. Sie dagegen war eine Löwin.
»Was bist du?«, zischte sie.
Ronans Lächeln ließ Blue bis auf die Knochen gefrieren. Es wirkte so
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