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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Ganseys übernatürliche Erklärung für die Ley-Linie geglaubt hatte, zumindest nicht im tiefsten Inneren. Doch jetzt war sie real. Magie existierte und Adam konnte nicht abschätzen, wie sehr das seine Welt verändern würde.
    Einen ausgedehnten Moment lang starrten sie in den Wald, als sähen sie sich einem Widersacher gegenüber. Gansey rieb sich mit dem Finger über die Lippe. Blue schlang die Arme um ihren Oberkörper, die Zähne vor Kälte zusammengebissen. Selbst Ronan wirkte beunruhigt. Nur Noah sah aus wie immer, die Arme locker herabhängend, die Schultern gekrümmt.
    »Ich fühle mich beobachtet«, sagte Blue schließlich.
    Gansey erwiderte: »Das kommt in Gegenden mit starken elektromagnetischen Strömungen öfter vor. Bei vielen Spukgeschichten stellen sich bloß ein paar alte, frei liegende Kabel als Ursache heraus. Hohe Werte in diesem Bereich können einem das Gefühl vermitteln, beobachtet zu werden. Verunsicherung, Misstrauen, Übelkeit. Die Drähte in unseren Köpfen sprühen Funken.«
    »Aber«, fügte Adam hinzu, »es kann auch genau umgekehrt sein. Hohe Energiewerte verleihen nämlich auch Geistern die Kraft, die sie zum Erscheinen brauchen, oder? Also ist es tatsächlich wahrscheinlicher, dass man beobachtet wird oder es bei einem spukt, wenn man das Gefühl hat, dass man beobachtet wird oder es bei einem spukt.«
    Gansey sagte: »Und natürlich kann Wasser das Ganze auch wieder umdrehen. Es verwandelt elektromagnetische Strömungen und Energie in positive Gefühle.«
    »Daher«, steuerte Ronan bei, der nicht außen vor bleiben wollte, »der ganze Mist über heilende Quellen und so.«
    Blue rieb sich die Arme. »Tja, das Wasser ist jedenfalls da drin, nicht hier draußen. Wollen wir?«
    Die Bäume seufzten. Gansey kniff die Augen zusammen.
    »Sind wir denn eingeladen?«, fragte Adam.
    »Ich glaube«, sagte Noah, »hier lädt man sich selbst ein.«
    Er betrat als Erster den Wald. Ronan grummelte vor sich hin, wahrscheinlich weil Noah – Noah! – mehr Mut bewies als sie alle. Dann stürzte er ihm hinterher.
    »Wartet.« Gansey sah auf die Uhr. »Es ist dreizehn Minuten nach vier. Das sollten wir uns für nachher merken.« Und damit folgte er Noah und Ronan.
    Adams Herz pochte. Blue streckte ihm die Hand hin und er ergriff sie. »Zerquetsch ihr nicht die Finger«, ermahnte er sich.
    Dann gingen sie in den Wald.
    Unter den Baumkronen war das Licht noch schummriger als auf der Wiese. Die Schatten unter den gefallenen Bäumen waren tiefschwarz und die Stämme schokoladenbraun, anthrazitgrau, onyxfarben.
    »Noah«, flüsterte Gansey. »Noah, wo bist du denn?«
    Noahs Stimme erklang hinter ihnen. »Na hier.«
    Adam fuhr herum, Blues Hand noch immer fest umklammert, doch außer den Zweigen, die im schwachen Wind erzitterten, war dort nichts zu sehen.
    »Was hast du gesehen?«, fragte Gansey. Als Adam sich wieder zurückdrehte, stand Noah ein Stück vor Gansey.
    Die Drähte in unseren Köpfen sprühen Funken.
    »Nichts.«
    Ronan, eine dunkle, gekrümmte Silhouette ein paar Meter weiter, fragte: »Wo wollen wir hin?«
    »Überall, nur nicht zu diesem Baum«, dachte Adam. »Den will ich nie wiedersehen.«
    Gansey stocherte in der Erde, auf der Suche nach Spuren des Bachs, dem sie bei ihrer ersten Erkundungstour gefolgt waren. »Dahin, wo wir letztes Mal waren, würde ich sagen. Bei einem richtigen Experiment stellt man doch dieselben Bedingungen wieder her, oder nicht? Allerdings ist der Bach heute flacher. Schwerer zu sehen. Aber es war nicht weit, stimmt’s?«
    Sie waren dem schwachen Rinnsal jedoch erst ein paar Minuten gefolgt, als sie feststellen mussten, dass ihnen die Landschaft ringsum völlig fremd war. Die hohen Bäume waren dünn und mickrig und ausnahmslos so krumm, als hätte sie ein heftiger Windstoß gebeugt. Dicke Felsbrocken ragten aus der mageren Erde hervor. Das Flussbett, der Weiher, der Visionenbaum – nichts davon war zu sehen.
    »Wir haben uns in die falsche Richtung locken lassen«, stellte Gansey fest.
    Sein Tonfall war sachlich und vorwurfsvoll zugleich, als hätte der Wald selbst sie in die Irre geführt.
    »Und außerdem«, merkte Blue an und ließ Adams Hand los. »Sind euch mal die Bäume aufgefallen?«
    Adam brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was sie meinte. Einige der Blätter an den Zweigen waren noch blassgelb, aber es war ein herbstliches Gelb, kein frühlingshaftes. Das meiste Laub um sie herum leuchtete im gedeckten Rotgrün des endenden Jahres. Was

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