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Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie

Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie

Titel: Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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zu können. So viel Würde hatte er sich immerhin noch bewahrt.
    Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, war immer noch recht attraktiv, die Hautfarbe ein helles Olivbraun, das Haar dicht und dunkel bis auf ein paar graue Strähnchen an den Schläfen, die er sich sorgfältig mit einer Zahnbürste schwarz färbte. Bei näherem Hinsehen konnte man jedoch das feine Netz geplatzter Äderchen an Nase und Wangen erkennen, die leichte Andeutung von Hängebacken – alles Zeichen und Vorboten von weit Schlimmerem, das die Zukunft bereithielt.
    Ja, es ließ sich nicht leugnen, dass seine Karriere auf dem absteigenden Ast war, doch die Wahrheit war, dass es sein ganzes Leben lang immer nur bergab gegangen war, bis auf einen einzigen kleinen Hoffnungsfunken, und der war auch ganz schnell wieder erloschen.
    Er war als Hari Pevensey zur Welt gekommen – derVorname war ein kleines Zugeständnis seines englischen Vaters an seine indische Mutter. Sein Vater, der jüngste Spross einer verarmten Landadelsfamilie aus Dorset, war nach Indien gegangen, um sein Glück als Ingenieur zu versuchen. Er war kläglich gescheitert, hatte aber immerhin die jüngste Tochter eines unbedeutenden indischen Prinzen mit nach Hause gebracht, der seinVermögen bei der Unabhängigkeit des Landes eingebüßt hatte. Deswegen hatte es auch keine Mitgift gegeben.

    Und auch der Umzug des Paares nach England hatte unter keinem guten Stern gestanden. Die anderen Mitglieder seiner Familie hatten entsetzt auf seine ausländische Braut mit ihrem vornehmen Getue reagiert. Für seinen Vater war ein Job als Geschäftsführer einer Kartonagenfabrik gefunden worden, und seine Eltern hatten mit ihrem neugeborenen Sohn eine kleine Doppelhaushälfte bezogen. Harry hegte denVerdacht, dass kurz darauf in der Ehe seiner Eltern die Eiszeit ausgebrochen war, weshalb es nach ihm keine weiteren Kinder gegeben hatte. Er konnte sich jedenfalls an keinerlei Anzeichen von Zuneigung zwischen seinen Eltern erinnern, die beide das Gefühl gehabt haben mussten, vom Schicksal nach Strich und Faden betrogen worden zu sein.
    Und dann, als er fünf Jahre alt gewesen war, hatten Harrys Eltern den dramatischsten Auftritt ihres ganzen Lebens hingelegt und ihn auf spektakuläre Weise zur Vollwaise gemacht, indem sie in volltrunkenem Zustand mit ihrem Wagen in eine Hecke in Dorset gerast waren. Harry war für den Rest seiner prägenden Jahre zwischen diversen Tanten und seiner englischen Großmutter hin und her geschoben worden und hatte den alten Hari so gründlich wie möglich begraben. Seine Begabung für Tarnung und Mimikry und sein attraktives, ein wenig exotisches Äußeres hatten ihm geholfen, einen Platz an einer Londoner Schauspielschule zu ergattern.
    Das waren noch Zeiten, dachte er mit einem nostalgischen Seufzer, während er sich die letzten weißen Flecken vom Kinn wischte. In den frühen Siebzigern, berauscht von seinen ersten Erfolgen, hatte er sich in den Clubs von Chelsea mit Rockstars die Nächte um die Ohren geschlagen, hatte zu viel getrunken und war mit allem ins Bett gegangen, was ihm über den Weg lief und ihm halbwegs gefiel – und er hatte nach und nach feststellen müssen, dass sein gutes Aussehen ein Talent kaschierte, das allenfalls oberflächlich war.

    Und nun saß er hier und inspizierte seine ausgeprägten Tränensäcke, pflegte seine Vorliebe für teuren Gin, den er sich eigentlich nicht leisten konnte, und schickte sich äußerst widerstrebend an, in seine Wohnung in Fitzrovia zurückzukehren, in einer Gegend, die früher einmal als »in« gegolten hatte.
    Aber wenigstens ein kleiner Hoffnungsstrahl erhellte seine düstere Perspektive. Vielleicht würde das kleine finanzielle Abenteuer ja wirklich etwas abwerfen, zu dem er sich von dem Jungen hatte überreden lassen – gegen sein besseres Wissen.Andererseits, was hatte sein »besseres Wissen« ihm je eingebracht, und was hatte er zu verlieren? Und dann war da auch noch die Genugtuung, Ellen eins auswischen zu können. Bei diesem Gedanken brannte der Sapphire-Gin gleich noch ein bisschen wärmer in seinem Bauch.
    Aber vielleicht, das war ihm inzwischen klar geworden, war da noch viel mehr drin. Wenn das Geschäft glückte, könnte er sich mit seinem Anteil die Gläubiger möglicherweise noch ein bisschen länger vom Hals halten.Von diesem Optimismus beflügelt, probierte er vor dem Spiegel ein beschwingtes Lächeln aus.Vielleicht steckte ja doch noch Leben in dem alten Teufel. Er fuhr sich mit

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